C. Beginnende Gegnerschaft
Die Schul-Kantianer


So sehen wir Kants Philosophie, nachdem in der zweiten Hälfte der 80er Jahre das Eis der Nichtachtung gebrochen, im folgenden Jahrzehnt ihr Licht nach allen Seiten hin ausstrahlen. Und doch läßt sich nicht leugnen, dass bei alledem ihre Wirkung allgemach mehr in die Breite als in die Tiefe ging. Bei manchen gerade der Begeistertsten erwies sich der anfängliche Enthusiasmus nur als ein Strohfeuer: so, um von Naturen von der Art Jean Pauls ganz zu schweigen, auch bei Jens Baggesen (S. 247f.), der schon 1796 unter höfischen Einflüssen "beide Revolutionen, die philosophische sowohl als die politische, fast ganz aus seinem Gesichtskreis verlor", so dass er "seitdem weder in Kant noch im Moniteur gelesen hat" (Reinbold an Erhard, 1. Juni 96), sondern zu Baaders Theosophie überging. Andere gingen in ihrem Popularisierungseifer gar zu weit und verflachten, wie der gute Kiesewetter, wenn er nicht bloß den 'Versuch einer leichten Darstellung der Hauptsätze von Kants Philosophie' (den sich auch Schiller am 4. Mai 1793 bei Göschen bestellt), sondern auch eine "faßliche Darstellung" derselben "für — Uneingeweihte" (Berlin 1795—1803) verfaßte, die bis 1824 vier Auflagen erlebte. Es traf unseren Philosophen, wie so manche Geistesgrößen, das tragische und doch natürliche Schicksal, dass gerade die Tüchtigsten und Bedeutendsten unter seinen Jüngern eigene Wege einzuschlagen begannen, während nur die weniger selbständigen Naturen — die Jakob, Kiesewetter, Mellin, Johann Schultz, Tieftrunk und andere — bei ihm ausharrten und ihn gegen Abweichende noch schärfer abzuschließen bestrebt waren.

Kant selbst hat, mindestens bis tief in seine kritische Epoche hinein, anders gedacht. Er wollte keine Philosophie, sondern philosophieren lehren, mochte keine "Gypsabdrücke von einem Menschen", eiferte gegen alle bloße Nachbeterei, verwarf das "Geschrei der Schulen". So hat er gewiß auch seine eigenen Nachbeter nicht besonders hochgeschätzt: von demjenigen wenigstens, auf den Schillers bekanntes "Kärrner"-Wort besonders zielt (Ludwig Jakob in Halle), sprach er mit Hamann "sehr gleichgültig" (Hamann an Jacobi, 11. Nov. 86) und hat ihm, als er später seine Protektion zur Erlangung einer Göttinger Professur suchte (an Kant, 7. Dez. 96), offenbar so deutlich seine Meinung über Universitätsintriguen gesagt, dass Jakob sich in seinem nächsten Brief (vom 2. Januar 97) fast wie ein geprügelter Hund scheu zurückzieht. Ebensowenig hat er sich über die Scheinwirkung seiner Philosophie auf grundsätzlich Andersdenkende, z. B. gläubige Katholiken, Illusionen hingegeben; er sagte darüber zu seinem jüngeren Kollegen Pörschke (nach Abeggs Tagebuch): "Die Leute glauben in meinen Schriften, die sie wie die Bibel nicht recht verstehen, zu finden, was sie suchen, und darum haben sie mich gerne, weil ein anderer aus ihrer Mitte nicht widerlegen kann, weil er das Gegenteü nicht zu finden versteht."

Indessen schließlich entging doch auch er nicht der Schwäche, die den meisten Genies, besonders aber wissenschaftlichen Schulhäuptern, je älter sie werden, um so mehr anzuhaften pflegt: dass sie, die viel Verehrten und Bewunderten, Widerspruch gegen ihr Eigenstes, ihr "System" immer weniger zu vertragen vermögen, am wenigsten bei den bisherigen Jüngern. Es braucht das bei Kant nicht eigentlich Rechthaberei gewesen zu sein. Sondern, wie er seinem Schüler Jachmann schon in den 80er Jahren und später (vgl. an Reinhold, 28. Nov. 94) öfter selbst gesteht, er vermochte nur mit äußerster Mühe sich aus dem von ihm in langjähriger Arbeit geschaffenen eigenen System heraus- oder gar in ein anderes hineinzudenken; aus diesem Grunde überließ er auch meist Freunden und Schülern die Verteidigung seiner Philosophie gegen Angriffe der Gegner. Das erscheint dann nach außen hin als Starrheit oder Wortklauberei und war geeignet, selbständige Persönlichkeiten abzustoßen. So kam es, dass selbst unter den Königsberger Universitätsphilosophen nur einige jüngere Dozenten, die eben noch seine Schüler gewesen waren, wie Gensichen, Jäsche, Rink, auf des Meisters Worte schwuren, dagegen die Älteren, wie Kraus und Pörschke, keineswegs Kantianer im engeren Sinne waren. Der letztere mußte, wie er Abegg am 13. Juni 1798 erzählte, sehr vorsichtig sein, wenn er ihm abweichende Ansichten entwickelte: "Kant, in Rücksicht seines Charakters ein Muster, kann Widerspruch nicht wohl vertragen."

Ähnlich ging es Kant mit seinem ältesten Schüler und Freunde Marcus Herz. Gewiß, freundliche Beziehungen blieben bestehen. Beide sandten sich bei Gelegenheit — etwa durch den fleißig mit Kant korrespondierenden Kiesewetter oder einen nach Königsberg reisenden Gelehrten — Grüße zu, schickten einander einzelne ihrer Werke, wie der Philosoph seine Kritik der Urteilskraft, Herz seine Schriften über den Geschmack und über den Schwindel. Aber Herz war ein vielbeschäftigter Arzt, der nicht viel Muße für die Philosophie mehr übrig hatte, wenngleich er "scharfsinnige Köpfe seiner Nation", wie Maimon oder Ben David, "um sich sammelte" (Erhard an Kant, 6. Nov. 91). In dem letzterhaltenen Briefe Herzens vom 25. Dezember 1797 — der letzte Kants stammt schon aus 1790 — äußert sich noch einmal das Andenken an die einstige Königsberger Zeit mit beinahe überschwenglichem Gefühl: er möchte ihm noch einmal sagen, "welche Seligkeit die Erinnerung an die ersten Jahre meiner Bildung unter seiner Leitung noch immer über mein ganzes Wesen verbreitet, und wie brennend mein Wunsch ist, ihn in diesem Leben noch einmal an mein Herz zu drücken", anstatt dass er jetzt — "in dem Berlin versauern" müsse. Allein seine Stellung zu der Sache Kants war doch, wohl nicht ohne Schuld des Mendelssohnstreites (Buch III, Kap. 3), offenbar ziemlich kühl geworden. Das geht aus der Weise hervor, wie er sich im Mai 1798 in Gegenwart des nach Königsberg reisenden Abegg über die "Kantianer" äußerte: sie hätten wenige ehrwürdige gute Menschen hervorgebracht, eher die Leibniz-Wolffsche Philosophie; Meilin scheine ja wirklich ein guter Mann zu sein, aber sonst kenne er außer Kant selbst keinen, den er wegen seines Charakters verehren könnte. — Und wie nahm der Philosoph die ihm von Abegg mündlich überbrachten Grüße des einstigen nächsten Vertrauten auf? Doch eigentlich nicht viel wärmer als die eines guten Bekannten: "O, er ist ein gutgesinnter Mann, der mich bei jeder Gelegenheit grüßen läßt. Wie geht es ihm?" Darauf Abegg: "Er wohnt in einem Gartenhause des Tiergartens, hat eine schöne geistreiche Frau" (die schöne Henriette hatte Kant nicht grüßen lassen, sie schwärmte schon damals für Jean Paul und die Romantik, haßte die "trockene kalte Aufklärung") und "ist allgemein verehrt". Und Kant: "Das ist mir lieb. Deswegen habe ich manchmal gern den Besuch eines Fremden, weil er mir solche Nachrichten aus eigener Ansicht erteilen kann." Herz starb ein Jahr vor Kant, am 26. Januar 1803. Nach seinem Tode kaufte der König für 2000 Taler seine Sammlung wertvoller physikalischer Instrumente und schenkte sie der Stätte, an der Herz einst seine Weisheit geschöpft hatte: der Universität Königsberg.

Dass Männer wie der ihm persönlich nicht näher getretene Maimon, nach anfänglicher Begeisterung, sich wieder von ihm abwandten, konnte unser Philosoph leicht verschmerzen. Kr meinte: Was "ein Maimon mit seiner Nachbesserung der kritischen Philosophie (dergleichen die Juden gerne versuchen, um sich auf fremde Kosten ein Ansehen von Wichtigkeit zu geben) eigentlich wolle", habe er nie recht fassen können und müsse dessen "Zurechtweisung" anderen überlassen (an Reinbold, 28. März 94). Schmerzlicher mußte ihn berühren, dass derselbe Reinhold, der seine Lehre zuerst in weitesten Kreisen verbreitet, auf den er die größten Hoffnungen gesetzt, über die 'Kritik' hinausgehend, andere Wege einschlug. Reinhold klagte zuerst, Kant ziehe andere, die bloß "sein Echo" seien, ihm vor (an Erhard, 7. Aug. 1791). Kant redet ihn noch im Mai 1793 "Teuerster Herzensfreund" an, spricht aber vier Jahre später schon von ihm und Fichte als seinen "hyperkritischen Freunden" (an Tieftrunk, 13. Okt. 97) und noch schärfer, nachdem Reinhold wiederholt seinen Standpunkt gewechselt, ein Jahr später (19. Okt. 98) gegen Kiesewetter: "Ich höre ..., dass Reinhold, der Fichte seine Grundsätze abtrat, neuerdings wiederum anderen Sinnes geworden und rekonvertiert habe. Ich werde diesem Spiel ruhig zusehen und überlasse es der jüngeren und kraftvollen Welt, die sich dergleichen ephemerische Erzeugnisse nicht irren läßt, ihren Wert zu bestimmen." — Auch der anfangs für ihn begeisterte J. S. Beck erregte, obwohl er mit seinem 'Einzig möglichen Standpunkt, aus welchem die kritische Philosophie beurteilt werden muß' (1796), Kants wahre Meinung nicht bekämpft, sondern nur verdeutlicht zu haben glaubte, und mit den "neuen philosophischen Irrlichtern" nicht in eine Klasse gesetzt zu werden wünschte, doch durch seine Abweichungen des Meisters Unzufriedenheit. Dieser erklärt zwar einmal sehr hübsch an Tieftrunk (12. Juli 97): seine "Liebe und Achtung für Herrn Beck" bewahren zu wollen, "denn was sollen uns alle Bearbeitungen und Streitigkeiten der Spekulation, wenn die Herzensgüte darüber einbüßt?" Aber er ließ sich dann doch, wie es scheint, durch Johann Schultz und andere Kantianer strikter Observanz bewegen, auch ihn mit dem Bannstrahl zu treffen, den er am 7. August 1799 gegen Fichte schleuderte.


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