Fünftes Kapitel
Weitere Ausbreitung der Kantischen Philosophie
in den 90er Jahren. Beginnende Gegnerschaft


Nachdem einmal, besonders durch die ethischen Schriften, das Eis der Nichtbeachtung gebrochen war, setzte sich die rasche Ausbreitung von Kants Philosophie zu Anfang der 90er Jahre fort.



A. In Deutschland


In Jena zählte Reinholds Kantkolleg 1790/91 95, im folgenden Winter 107, 1792/93 gar 158 Zuhörer, eine von Kant selbst nie auch nur entfernt erreichte Zahl. Durch Reinholds Übersiedlung (1794) nach Kiel wurde die neue Lehre auch dort verbreitet. In Marburg gewann der treue Bering den Theologen Zimmermann, den Juristen Robert, den Philosophen Creuzer dafür. In Göttingen kamen der Ästhetiker Bouterwek und der Theologe Stäudlin hinzu. Den ersteren beglückwünschte Kant in einem schmeichelhaften Briefe vom 7. Mai 1793 zu dem ihm selbst versagten "seltenen" Talent, "scholastische Genauigkeit in Bestimmung der Begriffe mit der Popularität einer blühenden Einbildungskraft vereinigen zu können"; und Stäudlin, der unserem Philosophen seit 1791 seine Schriften zuschickte, hat dieser in wichtigen Briefen (vom 4. Mai 1793 und 4. Dezember 1794) großes Vertrauen erwiesen, ja 1798 sogar seinen 'Streit der Fakultäten' gewidmet. Das Urteil, das Kants früherer Famulus Lehmann 1799 von Göttingen aus über die dortigen Philosophie-Dozenten fällt, lautete allerdings weniger günstig. Stäudlin gefiel ihm nicht, "weil er zu viel Pfaffenartiges an sich hat". Mit der theoretischen Philosophie sehe es erst recht traurig aus. "Auf einer Universität von mehr als 900 Studenten kommt nicht einmal ein Kollegium der Logik zustande, geschweige in anderen Teilen der Philosophie. Herr Buhle hat von allen seinen Kollegien nur die Geschichte der Philosophie zustande gebracht, wo er 9 Zuhörer hat, und Herr Bouterwek kein philosophisches Kollegium. Ob nun die Herren hieran selbst schuld sind?" Von denen der letztere "alles mit Zucker der Ästhetik versüßet und ekelhaft macht", der andere "noch immer die Alten presse": "beide aber selbst noch nicht wissen, ob sie Protestanten oder Katholiken der kritischen Philosophie sein wollen (von ihnen selbst beliebte Ausdrücke); ungeachtet sie mir in allen Sätteln gerecht und nicht bloß Kantianer, sondern auch Fichtianer und Gott weiß was nicht noch mehr zu sein scheinen". Freilich stammt diese Schilderung erst aus späterer Zeit (L. an Kant, 1. Jan. und 13. Nov. 99).


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