V. Temperament


Es ist allerdings die Frage, ob man überhaupt von einem vorherrschenden Temperamente bei unserem Philosophen sprechen darf: so sehr wird bei ihm das "Naturell" durch den Charakter "dirigiert" und beherrscht. Immerhin, da Kant selbst in seinen populären Schriften und den 'Reflexionen' häufig und gern die Lehre von den sogenannten "Temperamenten" anwendet, möge sie auch hier zur bequemeren Kennzeichnung seiner seelischen Anlage dienen.

Am wenigsten besaß er sicher von dem stärksten, dem "cholerischen" Temperament, obwohl ausnahmsweise auch er, sei es in scharf zugespitzten Diskussionen, noch mehr aber bei Dingen, die sein sittliches Gefühl empörten, in Hitze geraten konnte. Vom Phlegmatiker war ihm die gute Seite eigen: der oft von ihm gepriesene Gleichmut, der nicht mit Gleichgültigkeit und noch weniger mit Empfindungslosigkeit zu verwechseln ist. Auch ein gewisses mit dem Alter zunehmendes Ruhebedürfnis, das ihn an die gewohnte Umgebung fesselt, alle Rufe nach auswärts, überhaupt alles, was ihn aus seinen Gewohnheiten heraustreiben könnte, immer entschiedener ablehnen läßt, könnte man hierher ziehen; indes hängt diese Abweisung alles dessen, was ihn von der einmal gewählten Bahn und Lebensaufgabe abzulenken vermocht hätte, doch zu sehr mit seinem in den beiden vorigen Abschnitten charakterisierten bewußten Überlegen und Wollen zusammen, als dass man von einem natürlichen Kaltsinn oder gar Quietismus reden könnte.

Aber war Kant nicht — wie Vaihinger (Kantstudien II, 139 ff.) gefragt hat — vorherrschend Melancholiker? In der Tat schreibt er sich, an einer Stelle der 'Macht des Gemüts' (S. 152) eine "natürliche Anlage zur Hypochondrie" zu, die "in früheren Jahren bis an den Überdruß des Lebens grenzte". Allein er leitet dieselbe doch gerade an dieser Stelle von rein körperlichen Ursachen, nämlich seiner "flachen und engen", die Bewegung des Herzens und der Lungen einengenden Brust her und erzählt, wie er durch den festen Vorsatz ihrer Meister geworden sei. Auch die in den 'Beobachtungen' (1764) vorkommende Schilderung des Melancholikers, auf die Vaihinger sich bezieht, erinnert vielfach an Kant selbst, wie auch wir bei ihrer Erwähnung (Buch II, Kap. 3) betont haben. Außer dem Briefe von 1759 an Lindner könnte man noch manche andere pessimistische Äußerung über den Wert des menschlichen Lebens hierher ziehen; wie denn überhaupt ein Zug zur stillen Resignation gewiß zuweilen bei ihm hervortritt. Warum sollte er auch nicht, wie fast jeder tiefer empfindende Mensch, besonders in den Übergangsjahren zum Mannesalter, melancholische Stimmungen oder gar Perioden durchgemacht haben?

Indes der Kant der Reifezeit zeigt doch, in Leben und Lehre, ein vorherrschend anderes Gepräge. Während er sich "in der Brust beklommen fühlte", herrschte "im Kopf doch Ruhe und Heiterkeit". Diese ruhige, innere und äußere, Heiterkeit ist es, die den Grundzug seines Wesens ausmacht. Er besitzt die köstliche Gabe des Humors und liebt sie auch bei anderen; daher die frühe und bis ins Alter bewahrte Vorliebe für die humoristischen und satirischen Schriftsteller, zumal die behagliche Breite der Engländer. Lachen dünkt ihm besser als Weinen, "Demokrit besser als Heraklit" (XV, 622), und es ist nützlicher, die Torheiten der Menschen, die eigenen nicht ausgenommen, zu belachen und doch ihr Freund zu bleiben, anstatt sie "gleichsam mit Furien zu verfolgen" (ebd. S. 215 Anm.). Dass diese seelische Heiterkeit, um mit seinem eigenen Ausdruck zu reden, "auch in der Gesellschaft... sich mitzuteilen nicht ermangelte", bezeugen alle diejenigen, welche seinen persönlichen Umgang zu genießen das Glück hatten. Besonders drastisch der in seinen Ausdrücken immer etwas derbe Hamann in dem mehrerwähnten Briefe an Jacobi vom 9. April 1786: "Er plaudert lieber, als er hört ... Er ist ein sehr angenehmer Schwätzer in Gesellschaften und könnte es noch unterhaltender für das Publikum sein."

Als die drei besten "Güter der Seele" bezeichnet er zu Anfang der 70er Jahre einmal zusammenfassend: "einen gesunden Verstand, ein fröhlich Herz, einen freien, über sich selbst herrschenden Willen" (XV, 320, vgl. S. 257, 258). Reue und Askese sind ihm verhaßt, weil unfruchtbar: "Laßt uns also unser Leben wie ein Kinderspiel ansehen, in welchem nichts ernsthaft ist als Redlichkeit, ein gut Herz und Wohlanständigkeit (Pflicht gegen sich selbst)" (ebd. 213). Und sein Verhalten gegen die Mitmenschen faßte er am liebsten — wie wir sahen, noch in seinen letzten Tagen — in das Wort "Humanität" zusammen, das er einmal mit den einfachen Worten erklärt: "Wechselseitiges Wohlwollen, mit gegenseitiger Achtung verbunden"; wie er denn auch von sich selbst gern mit dem Terenz-Wort bekannte: Homo sum; humani nihil a me alienum puto (Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd)!


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