Beginnendes Altern
Das Alter hat sich in der Tat bei unserem Philosophen, trotz seines zarten und schwächlichen Körpers, erst verhältnismäßig spät eingestellt. Nachdem ihn die schwere Denkarbeit und wohl auch das Gefühl des Nichtfertigseins gegenüber seinem großen kritischen Werk in den 70er Jahren auch körperlich stärker angegriffen hatte, fühlte er sich im folgenden Jahrzehnt geistig wie körperlich wieder frischer. Wohl schreibt er am 12. September 1785 an Schütz: "Ich bin schon so ziemlich alt und habe nicht mehr die Leichtigkeit, mich zu Arbeiten von verschiedener Art so geschwinde umzustimmen, wie ehedem"; er müsse vielmehr seine Gedanken "ununterbrochen zusammenhalten, wenn ich den Faden, der das ganze System verknüpft, nicht verlieren soll". Und er gewöhnt sich in dieser Zeit, um bessere Nachtruhe zu genießen, daran, die Abende nie zusammenhängender Arbeit, sondern wechselnder und leichterer geistiger Beschäftigung zu widmen. Aber er war doch zu Ende der 80er Jahre noch immer gewohnt, den ganzen — bei ihm sehr langen — Vormittag durchzuarbeiten (an Reinhold, 1. Dezember 1789). Bald darauf muß jedoch ein Umschwung eingetreten sein, der ihn zu strengerem Haushalten mit seinen Geisteskräften nötigte. "Seit etwa zwei Jahren", schreibt er am 21. September 1791 an Reinhold, "hat sich mit meiner Gesundheit, ohne sichtbare Ursache und ohne wirkliche Krankheit, ... eine plötzliche Revolution zugetragen, welche meine Appetite in Ansehung des gewohnten täglichen Genusses schnell umstimmte, wobei zwar meine körperlichen Kräfte und Empfindungen nichts litten, allein die Disposition zu Kopfarbeiten, selbst zu Lesung meiner Kollegien, eine große Veränderung erlitt. Nur 2 bis 3 Stunden vormittags kann ich zu den ersteren anhaltend anwenden, da sie dann durch eine Schläfrigkeit (unerachtet des besten gehabten Nachtschlafs) unterbrochen wird, und ich genötigt werde, nur mit Intervallen zu arbeiten, mit denen die Arbeit schlecht fortrückt, und ich auf gute Laune harren und von ihr profitieren muß, ohne über meinen Kopf disponieren zu können." Dann folgt der sicherlich richtig erkannte Grund: "Es ist, denke ich, nichts als das Alter, welches dem einen früher, dem anderen später Stillstand auferlegt."
Ob mit diesem Altersgefühl die auffallende Notiz des jüngeren Hamann zusammenhängt: "Minister von Zedlitz soll den Professor Jakob zum Nachfolger (!) Kants bestimmt haben; ein gewisser Magister Pörschke macht sich ebenfalls Aussicht darauf" (an F. H. Jacobi, 30. Jan. 89)? Kant müßte dann ja schon sehr früh an Amtsniederlegung gedacht haben. Aber wie konnten sich solche Gerüchte in Königsberg verbreiten? Von einer stärkeren Abnahme seiner Geisteskräfte schon zu Ende der 80 er Jahre kann auf keinen Fall die Rede sein. Hat er doch noch in den ersten Monaten von 1790 das Manuskript eines so schwierigen und genialen Werks, wie die Kritik der Urteilskraft, vollendet! Aber natürlich machte sich gerade nach dieser aufreibenden Geistesanstrengung das zunehmende Alter des bereits 66 jährigen von Jahr zu Jahr mehr geltend. So entschuldigt er gegenüber einem Dr. Tafinger aus Tübingen, der ihm einen Aufsatz zur Prüfung eingesandt, die Verzögerung der Antwort in einem nur in Bruchstücken eines Entwurfs erhaltenen Schreiben von Mitte August 1792: "was mir in meinem 50sten Jahre leicht war: — — kurze Zeit abzureißen und doch nachher wieder — — [offenbar: wird sich jetzt nur mit] Schwierigkeit tun lassen." Allein es ist doch weniger eine wirkliche entscheidende Abnahme der geistigen Kräfte, als das Bedürfnis und die Notwendigkeit, sich in Anbetracht der häufigeren "Indisposition" zur Arbeit, die ihm "das Alter zuzieht", noch stärker geistig zu konzentrieren. Er fühlt, wie er am 21. Dezember 1792 an Erhard schreibt, den Beruf in sich, seine Arbeiten zu vollenden und will darum "den Faden derselben, wenn Disposition dazu da ist, nicht gern fahren lassen".
So gab er denn seit Sommer 1789 eine seiner beiden wöchentlichen Fachvorlesungen auf und las statt 13 fortan nur 9 Stunden wöchentlich: im Sommer an den vier Haupttagen von 7—8 früh Logik nebst einem Repetitorium Samstags zu derselben Stunde, Mittwoch und Sonnabend 8—10 seine populäre "Privat"-Vorlesung über Physische Geographie; im Winter in derselben Weise Metaphysik (nur einmal — 1793/94 — statt dessen Metaphysik der Sitten, d. h. Ethik) und Anthropologie. Sein Vortrag war jedoch nicht mehr so lebhaft wie früher. Schon gegen Ende der 80er Jahre, erzählt Rink, der ihn zwischen 1786 und 1789 gehört hat, "verlor sein Vortrag zuweilen an Lebhaftigkeit in der Art, dass man hätte glauben mögen, er werde einschlummern; in welcher Meinung man bestärkt werden mußte, wenn man in seiner Körperbewegung dann mit einem Male ein plötzliches Zusammennehmen seiner abgespannt scheinenden Kräfte wahrnahm". Und Fichte gar schrieb, nachdem er am 4. Juli 1791 in einer seiner Vorlesungen hospitiert hatte, in sein Tagebuch: "Sein Vortrag ist schläfrig." Als der junge Reusch Michaelis 1793 auf die Universität kam, fand er die Stimme des Siebzigjährigen schwach; außerdem "verwickelte er sich im Vortrage und wurde undeutlich". Von den Vorlesungen über Logik und Metaphysik, die übrigens auch in jener Zeit noch von 50—80 Zuhörern besucht wurden, faßte der damals freilich erst 15- bis 16jährige auch inhaltlich nur einzelne Gedanken, die dann wie "ein leuchtender Punkt oder Blitz" in seine Seele gingen. "Dagegen war sein geographisch-physikalischer Vortrag wohlverständlich, ja höchst geistreich und unterhaltend". Zufällig saß in einer der philosophischen Vorlesungen auf einem Platze unmittelbar vor dem Philosophen, den dieser — ähnlich wie den Löbenicht-schen Kirchturm von seinem Studierzimmer aus —, um seine Gedanken zu fixieren, fest ins Auge zu fassen pflegte, ein besonders "einfältiger und ungebildeter" Commilitone. Während nun Kant ernsten Blickes auf ihn schaute und seine Stirne tiefes Denken umschwebte, gab der Student, dessen beschränkter Kopf dem Philosophen nicht zu folgen vermochte, seiner langen Weile durch ein langes Gähnen Ausdruck. Das brachte den frei vortragenden Weisen so außer Fassung, dass er heftig äußerte: wenn man sich des Gähnens nicht enthalten könne, so erfordere es die gute Sitte, wenigstens die Hand vor den Mund zu halten. "Für die Folge wurden dann, auf Veranlassung des Amanuensis, die Plätze getauscht" (Reusch, a. a. O., S. 6 f.). — Günstiger urteilte 1795 der uns schon bekannte (vgl. Bd. I, S. 429) 22 jährige Graf Wenzel Purgstall, der einzig, um Kant persönlich kennen zu lernen, Ende April d. J. aus der fernen Steiermark auf einige Wochen nach der Pregelstadt gekommen war: Alles, was dem Vortrag an Form fehle, werde reichlich durch die Vortrefflichkeit des Inhalts ersetzt. "Und wenn man einmal dahin gekommen ist, seine Stimme zu verstehen, so wird es einem nicht schwer, seinen Gedanken zu folgen. Letzt sprach er über Raum und Zeit, und mir war, als hätte ich keinen noch so verstanden als ihn."
Im übrigen wies der Greis jetzt noch öfter als früher solche, die "genaueren Privatunterricht suchten", an jüngere Kräfte unter seinen Anhängern, wie die außerordentlichen Professoren Pörschke und Gensichen oder den Magister Jäsche, dem er 1799 die Herausgabe seiner Vorlesungen über Logik übertrug. Gensichen, ein Schüler von Johann Schulz, war ein tüchtiger Mathematiker; er fertigte 1791 in Kants Auftrag den Auszug aus dessen 'Naturgeschichte des Himmels' an, um ihn mit einer astronomischen Abhandlung Herschels zusammen herauszugeben. Pörschke, eine liebenswürdige, aufrichtige und gesellige Natur, der später zu Fichte überging, las im Sommersemester 1795 — Mittwoch und Samstag von 6 (!) bis 8 Uhr früh — ein Kolleg über die Kritik der reinen Vernunft.
Das Amt eines Dekans versah Kant zum letztenmal im Jahre 1791; den ihm nie sympathisch gewesenen (s. Buch III, Kap. 8) Senatssitzungen blieb er seit 1795 dauernd fern. Eine einschneidendere Einschränkung seiner geistigen oder doch literarischen Wirksamkeit aber, als durch sein Alter, sollte von außen kommen.