e) Begründung der Religion auf Moral
"Religion ist die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote": so lautet ihre öfters gegebene Begriffsbestimmung. Wird sie damit nicht zu einem bloßen Anhängsel der Moral gemacht? In gewissem Sinne allerdings. Im System des Kritizismus erscheint die Religion nicht als selbständiges, gleichwertiges Glied wie Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, sondern als bloßes Zubehör der Ethik, wie wir schon gegen Schluß des vorigen Kapitels angedeutet haben. Gleichwohl fallen Moral und Religion nicht zusammen: wie das schon dem kritischen Grundprinzip reinlicher Scheidung des Verschiedenartigen (B. III, Kap. 1) entspricht. Die Ethik bedarf keiner religiösen Grundlage. Unter die zum "Prinzip" der Sittlichkeit untauglichen Bestimmungsgründe rechnet die Kritik der praktischen Vernunft ausdrücklich auch den "Willen Gottes" und weist somit jede theologische Begründung der Ethik ab. Und doch "führt" die Moral, wie es an einer anderen Stelle heißt, "unausbleiblich" zur Religion. An sich freilich, so führt Kant aus, brauchten die Menschen nach den möglichen Folgen ihres Tuns und Lassens nicht zu fragen. "Für sie ist's genug, dass sie ihre Pflicht tun, es mag nun mit dem irdischen lieben alles aus sein und wohl gar selbst in diesem Glückseligkeit und Würdigkeit niemals zusammentreffen." Allein, da Glückseligkeit doch schließlich nicht bloß das berechtigte Verlangen jedes endlichen Wesens ist, sondern auch die notwendige Folge der Sittlichkeit sein soll, so müssen wir einen allmächtigen Weltherrscher annehmen, der die "genaue Übereinstimmung des Reiches der Natur mit dem der Sitten" als Oberhaupt beider (Gott) herzustellen vermag. Und da ferner die oberste Bedingung des in der Welt doch schließlich zu verwirklichenden "höchsten Gutes" völlige Übereinstimmung unserer Gesinnung mit dem Sittengesetze ist, solche "Heiligkeit" jedoch niemandem hienieden möglich, sondern bloß annähernd durch einen beharrlichen "moralischen Progressus" erreichbar ist: so müssen wir auch eine unendliche Fortdauer der Persönlichkeit, mithin Unsterblichkeit der Seele voraussetzen. Freilich, wie der Philosoph ausdrücklich einschärft, nicht als Gewißheit, sondern nur als "tröstende Hoffnung", die derjenige, welcher an jenem "Heiligungs"-Fortschritt bis zu seinem Lebensende aus echten sittlichen Beweggründen angehalten zu haben sich bewußt ist, sich machen darf: "dass er auch in einer über dieses Leben hinaus fortgesetzten Existenz bei diesen Grundsätzen beharren werde". Notwendig ist es nicht, dass wir existieren, oder gar dass wir ewig existieren, wohl aber dass wir uns des Lebens würdig verhalten. So werden denn das Dasein Gottes und die persönliche Unsterblichkeit — zuweilen wird im Geiste des Zeitalters der Aufklärung noch die "Freiheit" des Willens hinzugefügt, obwohl sie genau genommen systematisch auf einem ganz anderen Blatte steht — als "Postulate" (Forderungen) der praktischen Vernunft aufgestellt, die zwar theoretisch nicht beweisbar, sondern Glaubenssache, sogar nur eine solche "zweiten Ranges" sind, aber doch "dem praktischen Gesetze unzertrennlich anhängen".
Man mag das mit uns für eine Inkonsequenz, für eine Abschwächung der reinen Ethik, ja mit Fichte auch für eine Abschwächung des reinen Gottesbegriffes halten, insofern Gott als Austeiler der Glückseligkeit zum "Geber des Genusses" degradiert wird: eine unlautere Anpassung an die Kirche ist es jedenfalls nicht gewesen, sondern eine Anschauung, die Kant mit nahezu sämtlichen Vertretern der deutschen Aufklärung teilt. Schwerlich ist es eine Nachwirkung seiner Jugenderziehung. Diese und mit ihr das spezifisch Christliche in Kant dürfte in anderen Punkten zu suchen sein. Damit aber kommen wir von der Begründung zur Anwendung und zwar zunächst zu: Kants Stellungzum biblischen Christentum.