Zunahme der Körperschwäche.
Wasianskis Hilfe


Auch die Körperschwäche des Greises nahm jetzt merklich zu. Insbesondere seine Füße versagten ihm immer mehr den Dienst. Er fiel im Gehen wie im Stehen, wenn auch glücklicherweise fast stets, ohne sich zu verletzen, so dass er zu scherzen pflegte, er könne wegen seines leichten Gewichtes überhaupt nicht schwer fallen. Öfters, wenn er aus Mattigkeit vormittags auf seinem Stuhle einschlief, fiel er auch von diesem, bis er mit einem Armstuhl vertauscht wurde. Auch geriet einmal, als er, beim Lesen eingenickt, einer Kerze zu nahe gekommen war, seine baumwollene Nachtmütze in Brand, wobei er sich jedoch mit großer Kaltblütigkeit benahm, indem er sie mit den bloßen Händen auf den Zimmerboden beförderte und dort austrat. Bei der Gelegenheit sei bemerkt, dass Kant, wenigstens in seinem Alter, zwei Schlafröcke übereinander trug; ferner, dass er sehr reinlich war, sich unter anderem täglich zweimal wusch und seinen Mund durch Gurgeln mit dem von ihm als "styptisch" (salzsauer) bezeichneten Wasser des nahen Schloßbrunnens reinigte.

Infolge seiner wachsenden Unbehilflichkeit nahm der einst so Selbständige jetzt für allerlei kleine häusliche Vorrichtungen die gern gebotene Hilfe seiner Freunde an: so stopfte ihm Kriminalrat Jensch jeden Donnerstag die Pfeifen für die ganze Woche, Frau Professor Pörschke besorgte ihm das Trocknen von Erbsen und Bohnen, Kaufmann Motherby junior Kabljau und englischen Käse, Jacobi Rheinwein, Regierungsrat Vigilantius die Quittungen an das Oberschulkollegium (für die von Berlin gezahlte Gehaltszulage), Bürgermeister Buck die Sterblichkeitstabellen der Stadt. Am wichtigsten aber sollte für ihn der Mann werden, dem wir in diesen wie in manchen anderen Nachrichten über sein Alter bisher schon gefolgt sind: der Diakonus an der Tragheimer Kirche Wasianski.

Ehregott Andreas Christoph Wasianski, geb. 1755, war 1773—1780 Kants Zuhörer und einen Teil dieser Zeit über auch sein Amanuensis gewesen, aber erst seit 1790, wo beide auf Professor Pörschkes Hochzeit zufällig zusammentrafen, ihm wieder nähergetreten. Er besaß, außer seinen theologischen, nicht nur gute Sprachkenntnisse — er dichtete deutsche wie lateinische Verse (so noch 1824 fließende lateinische Distichen zum 100. Geburtstage Kants), sondern war auch in Physik und Chemie bewandert, und vor allem von großem praktischen, besonders mechanischem Geschick: wie er denn unter anderem einen sogenannten "Bogenflügel" (Bd. I, 390) erfand und selbst verfertigte. Er hat noch das 50jährige Jubiläum seiner 1780 begonnenen Pfarrtätigkeit an der Tragheimer Gemeinde feiern können und starb hochbetagt 1831. Zu diesem in seiner Nähe wohnenden Manne, der sich stets gefällig zeigte und nach Kants eigenem Ausdruck "in allen Dingen Rat wußte", zog es den jetzt das Gefühl der eigenen Schwäche immer stärker empfindenden Philosophen je länger, je mehr. Er, der früher Freundesbesuche ungern außer der Zeit empfing, weil er dieselbe streng abgemessen hatte und in seinen Arbeiten nicht gestört sein wollte, bat jetzt den freundlichen Nachbarn, falls es ihm seine Zeit erlaube, doch öfters bei ihm vorzusprechen, um nach ihm zu sehen. So kam denn Wasianski fast täglich auf eine halbe Stunde — in der Regel zwischen 9 und 10 Uhr vormittags, zuweilen aber auch schon nach 5 Uhr früh —, um sich seiner häuslichen Angelegenheiten anzunehmen, ihm die Federn zu schneiden, für Reparaturen im Hause, Ordnung seiner Wäsche und Kleidungsstücke zu sorgen und ähnliches; besonders angenehm war es Kant, dass Wasianski seine Wünsche so schnell ("auf der Stelle") erfüllte. Was aber das Wichtigste war, der Philosoph hatte in ihm einen Mann gefunden, der ihn selbst, was bei seinen jetzt stärker hervortretenden Eigenheiten manchmal nicht leicht war, richtig zu behandeln wußte: freundlich und doch ohne jede Schmeichelei, mit Zartgefühl und doch auch Beharrlichkeit und Konsequenz, ohne seinen Widerspruch zu reizen und doch mit Freimut und Offenherzigkeit.

Wer alle die kleinen Züge, in denen sich dies im Verkehr beider in Kants letzten Jahren bis zu seiner Todesstunde kundgab, kennen lernen will, der lese die ausführliche Schilderung, die der getreue Helfer von 'Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren'1) gegeben hat: zwar keine "unvergängliche" (H. St. Chamberlain), aber eine treue und zuverlässige, mit dem Gefühle warmer Verehrung und doch "ohne alle Schminke" abgefaßte, freilich keinen bedeutenden Schriftsteller, aber einen feinfühligen Beobachter verratende Darstellung, die dem Leser den großen Denker im Hausgewande vor Augen führen will.

Vor allem Übertrag der Philosoph ihm am 8. November 1801 — er schenkte ihm zum Andenken an diesen Tag seine große goldene Medaille 2) — die Besorgung aller seiner Geldangelegenheiten, vertraute ihm den bis dahin nur seinem Bankier bekannten Bestand seines Vermögens an und übergab ihm die Schlüssel seines Geldschrankes, die jedoch der taktvolle Mann nur bei notwendigen Zahlungen gebrauchte. Im folgenden Monat ernannte er ihn auch, an Stelle der früher benannten Professoren Gensichen bzw. Pörschke, zu seinem Testaments-Vollstrecker (Nachtrag vom 14. Dezember 1801, in dem ausdrücklich festgestellt ist, dass gegen des Testators Dispositionsfähigkeit "gar kein Bedenken obwaltet"; Ak.-Ausg. XII, 412—414). Er war mit ihm so zufrieden, dass er einst Scheffner fragte, ob er sich nicht auch "einen Wasianski zulegen" wollte. "Sie glauben es nicht, wie vortrefflich es ist, einen Freund gefunden zu haben, dem man sein ganzes Hauswesen überlassen kann" (Scheffners Selbstbiographie, S. 406). In allen wichtigeren, besonders den juristischen, Angelegenheiten zog übrigens der bescheidene und gewissenhafte Prediger den Regierungsrat Vigilantius zu Rate.

 

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1) Königsberg, bei Fr. Nicolovius 1804, 224 Seiten Klein-Oktav. Dazu hat P. Czigan die handschriftlichen Bemerkungen aus Wasianskis Handexemplar in den 'Sitzungsber. der Altertumsgesellschaft Prussia', 17. Heft (Königsberg 1892) veröffentlicht.

2) Vgl. Buch III, Kap: 8. Das Schenkungsdokument ist abgedruckt Ak.-Ausg., XII, 418.


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