Gesundheitszustand
Seines zarten Körpers ungeachtet, ist Immanuel Kant bis zu seinem 70. Lebensjahr, ja darüber hinaus niemals eigentlich krank,*) d. h. bettlägerig gewesen; wie wir schon wissen, hat er ja auch, mit einer einzigen Ausnahme, nie eine seiner Collegstunden versäumt. Das will jedoch keineswegs besagen, dass er sich etwa einer eisenfesten Gesundheit erfreut hätte. Zahlreiche Selbstzeugnisse, mindestens aus der zweiten Hälfte seines Lebens, beweisen das zur Genüge. So spricht er schon am 9. Mai 1767 gegen Herder von seiner "stets wandelbaren Gesundheit". Die Ablehnung der Erlanger Professur im Jahre 1769 begründet er mit seiner "schwächlichen Leibesbeschaffenheit". Während der geistig besonders angestrengten Zeit des folgenden Jahrzehnts werden diese Klagen in seinen Briefen, natürlich nur vertrauteren Bekannten, wie dem medizinischen Freunde Marcus Herz gegenüber, immer häufiger. In dem uns schon bekannten bedeutsamen Schreiben aus dem April 1778 (s. 2. Buch, Kap. 7) faßt er seinen körperlichen Zustand einmal in das bezeichnende Wort: "auf schwächliche Art gesund" zusammen. Eine halbe Seite vorher gebraucht er die ähnliche Wendung: "mein launischer, doch niemals kranker Körper"; wobei er aber unter "Gesundheit" ein "sehr eingeschränktes Wohlbefinden, wobei der größte Teil der Menschen sehr klagen würde", versteht (an Herz, 28. Aug. 78). Zu Anfang der 80er Jahre, nach Vollendung des ersten großen Werks, vernehmen wir weniger Klagen aus seinem Munde. Immerhin schildert er am 16. August 1783 dem freilich viel kränklicheren Mendelssohn den eigenen Zustand fast genau mit den Worten wie oben: er habe "immer mit Unpäßlichkeit zu kämpfen, ohne doch jemals krank zu sein": wie er auch zu einer nicht genauer bestimmten Zeit in Borowskis Gegenwart einmal einer Dame, die sich nach seinem Befinden erkundigte, erklärte, dass er "eigentlich nie gesund und nie krank sei".
Fragen wir nach dem eigentlichen Grunde dieser ihn beinahe nie verlassenden und zwar nicht seines Lebensmutes und seiner inneren Heiterkeit beraubenden, indes doch oft genug an angestrengter Geistesarbeit hindernden "Unpäßlichkeit", so war es, abgesehen von seinem zarten Körperbau überhaupt, in der Hauptsache doch wohl die bei Leuten von sitzender Lebensweise, zumal bei Gelehrten, häufig sich einstellende "Gelehrtenkrankheit", die mit chronischen Magenbeschwerden, namentlich Verstopfung, und infolgedessen eingenommenem — er sagt einmal: "benebeltem" — Kopfe verbunden ist. Daneben bezeichnete der ältere Kant Bekannten als ein Gefühl, das ihn nie verließe, "ein Drücken unter der Brust, auf dem Magenmunde" oder "Blähungen" in dem letzteren. So hat er im Grunde sein Leben lang mehr oder weniger mit seiner schwächlichen Konstitution zu kämpfen gehabt. Durch welche Mittel gelang es ihm nun, in diesem Kampfe obzusiegen, d. h. die Heiterkeit seiner Seele zu behaupten, und auch ein hohes Alter zu erreichen?
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*) Gegenüber Wasianski wußte er sich nur eines einzigen Krankheitsanfalls aus seinen "frühesten akademischen", d. h. ersten Magisterjahren, zu erinnern, nämlich eines "kalten Fiebers", das er sich aber durch einen weiten Spaziergang, zum Brandenburger Tor hinaus und zum Friedländischen wieder hinein, vertrieben hatte. In seinem Handexemplar hat Wasianski (S. 134 f.) handschriftlich noch den Schluß von Kants Erzählung hinzugefügt: "Fast zum Niedersinken ermattet, kam er fast verschmachtet ins Friedländische Tor, setzte sich auf eine Bank an der Akzise und bat eine Frau um ein Glas Wasser. Er vergaß in den späteren Jahren seines Lebens diese Gefälligkeit nicht und hielt das Glas Wasser für das größte Labsal, das er jemals genossen."