2. Die letzten selbständigen Schriften (1796—1798)
Gegen die Gefühlsphilosophie
In einem jener ungedruckten Briefe Goeschens an seinen Sohn vom 2. Februar 1797 heißt es im Anschluß an die Bemerkung, dass Kant dieses Semester nicht lese und, wie es heißt, überhaupt nicht mehr lesen werde, weiter: "Er will den kleinen Überrest seines Lebens dazu verwenden, seine Papiere in Ordnung zu bringen und seinen literarischen Nachlaß dem Verleger übergeben." Denen, die ihn nach seinen gelehrten Arbeiten fragten, hatte er selbst schon 1794 geantwortet. "Ach, was kann das sein! Sarcinas colligere! Daran kann ich jetzt nur noch denken!" In der Tat könnte man seine Schriften von 1796 ab als das "Bündel schnüren" eines, der sich zum Aufbruch rüstet, bezeichnen.
Zwei Abhandlungen, die er 1796 und 1797 seiner alten 'Berlinischen Monatsschrift' zur Veröffentlichung übergab, verteidigen seinen Standpunkt gegen die allmählich — übrigens ganz wie ein Jahrhundert später — gegenüber der kritisch-wissenschaftlichen Denkart wieder aufkommende, nur jetzt noch viel anmaßender als im vorigen Jahrzehnt (Herder) auftretende Gefühlsphilosophie. Bereits in den 70er und 80er Jahren hatte er die "Genieschwünge" als die bequeme Sinnesweise derer bezeichnet, welche sich über die methodische, schulmäßige, wissenschaftliche Arbeit hinwegsetzen zu dürfen meinen. Jetzt gegen Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn zog er noch einmal für seine Ansicht vom Wesen wissenschaftlicher Philosophie gegen sie zu Felde in dem Aufsatz:
Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (Mai 1796)
"Vornehm" nennt er diejenigen "Philosophen", welche nicht schulmäßig, das ist methodisch, in langsamem und bedächtigem Fortschreiten arbeiten, sondern geniemäßig aus dem Orakel ihres Inneren schöpfen wollen, die nicht "durch die herkulische Arbeit der Selbsterkenntnis von unten hinauf", sondern "sie überfliegend durch eine sie nichts kostende Apotheose von oben herab" beweisen, die sich nicht durch Kritik der eigenen Vernunft zu einer sehr notwendigen Bescheidenheit herabstimmen lassen, sondern als "Philosophie der Vision" die Spitze der Einsicht durch einen kühnen Schwung ohne Mühe erreichen zu können glauben: "Weg mit der Vernünftelei aus Begriffen, es lebe die Philosophie aus Gefühlen, die uns geradewegs zur Sache selbst führt!" Auf das "Formale in unserer Erkenntnis", das dem Kritizismus "das hauptsächlichste Geschäft der Philosophie" ist, sehen sie verächtlich als auf eine "Formgebungs-Manufaktur" herab, und arbeiten statt dessen lieber mit ihrer den Gegenstand "unmittelbar und auf einmal" fassenden "intellektuellen" Anschauung; statt mit scharfen Beweisen, mit Ahnungen, Wahrscheinlichkeiten, Analogien. Wie in der theoretischen Erkenntnis, so auch in der Ethik. Die kritische Ethik verschmäht keineswegs das sittliche Gefühl. Aber sie will es erst durch Philosophie, durch geklärte Begriffe in Bewegung und Kraft versetzen; die "allerneueste deutsche Weisheit" dagegen will die Menschen nicht erst "gewisser", sondern durch ein geheimnisvolles Gefühl sofort "besser" machen. Gewiß erstreben auch die Gegner im Grunde dasselbe Ziel, den Menschen weise und rechtschaffen zu machen: "die verschleierte Göttin, vor der wir beiderseits unsere Knie beugen, ist das moralische Gesetz in uns in seiner unverletzlichen Majestät". Allein der kritische Philosoph sucht es "nach logischer Lehrart auf deutliche Begriffe zu bringen", der andere personifiziert es ebenso wie im Theoretischen, zu einer verschleierten Isis, die man nur "ahnen" kann. Mit Unrecht berufen sie sich dabei, im Gegensatz zu dem "prosaischen" Zeitalter, das nur das vor den Füßen Liegende und mit Händen Greifbare anerkenne, auf die poetische Philosophie Platos.
Kant hatte mit seiner Polemik, in der er keinen Namen nennt, in erster Linie Goethes Schwager Johann Georg Schlosser (geb. 1739) im Auge, der sich in früheren Jahren als badischer Beamter manche Verdienste um die Volkserziehung erworben, aber seit seinem tibergang zur reinen Scbriftstellerei (1794) in einen platonisierenden Gefühlsmystizismus hineingeraten war. Daneben den jüngeren Stolberg (Friedrich), der damals, um das Gleichnis der Xenien zu gebrauchen, von Apoll aus dem Parnaß gejagt, dafür ins Himmelreich einging. Schlosser, obwohl nicht genannt, sondern nur zitiert, fühlte sich durch Kants Aufsatz so gereizt, dass er nun seinerseits zum Angriff überging. Er warnt in einem "Schreiben an einen jungen Mann, der die kritische Philosophie studieren wollte" (1792), seinen fingierten Adressaten vor dem Sirenengesang der neuen Philosophie, vor deren Selbständigkeits- und Freiheitssucht, die sogar den Unterschied der Stände niederreißen wolle, vor ihrer Verachtung des gesunden Menschenverstandes und — als ob dies auch sirenenhaft-lockend wäre! — vor ihren" dürren Abstraktionen, ihrer schweren Sprache, ihren strengen Begriffen, die nicht für den Weltgebrauch paßten, ihrer Moral, die eine verunglückte Nachahmung Shaftesburys sei. Bis dahin ruft die breite Sentimentalität des Stils und die Beschränktheit des Standpunktes mehr das Gefühl der Langeweile bei dem heutigen Leser hervor; dann aber beginnt ein häßliches Denunzieren, das sich an Kants Person vergreift. Ein Mann, der wie Kant das Christentum zerstöre und an seiner Stelle ein düsteres Labyrinth unfruchtbarer Spekulationen öffne, der mit seinem Deismus schon die Dorfprediger vergifte, maße sich an, Menschen zu leiten, Menschenglück verbreiten zu wollen: ein solcher Philosoph dürfe ein christliches Lehramt nicht behalten!
Kant regte sich über diesen Angriff keineswegs so auf, wie ein Rezensent des Jenaer 'Philosophischen Journals', der Schlossers .Schreiben' eine "an Inhalt und Ausdruck nicht bloß plebejische, sondern wahrhaft proletarische Schandschrift" nannte, die "außer den ungeschicktesten und abgenutztesten Verdrehungen der kritischen Philosophie nichts wie Schmähungen gegen Kants Person und denunzierende Verleumdungen gegen alle Philosophen" enthalte. Er zerschmetterte die Gegner auch nicht mit witziger Bosheit, wie der damals noch in Fichtes Bahnen wandelnde Friedrich Schlegel, der das Schlossersche "Libell" für ein "unübertreffliches Muster des gemeinen Tones" erklärte und auch die philologischen Blößen des "neuorphischen Christianismus" glänzend abfertigte. Aber er hielt es doch für angebracht, ihm einen kleinen Denkzettel zu verabreichen, und er tat dies in dem kurzen — wenig mehr als die Hälfte des vorigen umfassenden — Aufsatz:
Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie
im Dezemberheft 1796 der Berlinischen Monatsschrift, das jedoch, durch das bevorstehende Eingehen derselben veranlaßt, erst Ende Juli 1797 (als Schlußheft dieser Zeitschrift überhaupt) erschien.
Auch hier behandelt er den Gegner seinem Verdienst entsprechend nur nebenbei auf den letzten Seiten, und mehr mit überlegenem, feinem Humor als in ärgerlichem Tone, die Angriffe desselben "bloßer Unkunde", nur "vielleicht auch etwas bösem Hang zur Schikane" zuschreibend. Die Hauptsache ist ihm, wie immer, nicht die Person, sondern die Sache. Ein bißchen Zank philosophischer Schulen könne vielleicht sogar als eine wohltätige Veranstaltung der Natur angesehen werden, von der Philosophie die Gefahr des Verfaulens bei lebendigem Leibe abzuwenden. Allein eine bestimmte Philosophie als Heilmittel zu verordnen, dürfe sich doch nur der "zunftgerechte Arzt", nicht der "bloße Liebhaber" anmaßen, der in einer Kunst Pfuscherei treibe, von der er nicht einmal die ersten Elemente kenne. Zu solcher Medizin tauge aber weder der Dogmatismus, "ein Polster zum Einschlafen und das Ende aller Belebung", noch der Skeptizismus, der "alles ungebraucht zur Seite legt", noch der Moderatismus, der in Wahrscheinlichkeiten macht und zu gar nichts gut ist. Die kritische Philosophie dagegen sei nicht bloß ein fortwährendes Belebungsmittel des Geistes, sondern eröffne auch die Aussicht zu einem ewigen Frieden unter den Philosophen, indem sie die Ohnmacht der theoretischen Gegenbeweise mit der Stärke ihrer eigenen praktischen Gründe aufzeige. Denn Philosophie als Weisheitslehre bestehe in der Befolgung des übersinnlichen Sittengesetzes. Erste Bedingung alles theoretischen wie praktischen Philosophierens müsse unbedingte Wahrhaftigkeit der Philosophen sein. "Das Gebot: Du sollst (und wenn es auch in der frömmsten Absicht wäre) nicht lügen, zum Grundsatz in die Philosophie als eine Weisheitslehre innigst aufgenommen, würde allein den ewigen Frieden in ihr nicht nur bewirken, sondern auch in alle Zukunft sichern können." Mit diesen so recht sein innerstes Wesen offenbarenden Worten schließt Kant die letzte im engeren Sinne philosophische seiner kleinen Abhandlungen. Auf ein neues "Sendschreiben" Schlossers "an einen jungen Mann usw." hat er nicht mehr reagiert.
In diesem letzten Streite des alten Philosophen mit der Gefühls- und Glaubensphilosophie standen auf Seiten von Freiheit und Vernunft nicht bloß, wie selbstverständlich, Biester und die Aufklärung, sondern auch unsere beiden klassischen Dichter. Goethe insbesondere, obwohl Schlossers eigener Schwager, fand Kants Aufsatz: 'Uber den vornehmen Ton' "ganz allerliebst" (an H. Meyer, 30. Okt. 96). Auch durch ihn werde "die Scheidung dessen, was nicht zusammengehört, immer lebhafter befördert" (an Schiller, 26. Juli 96). "Auch" durch ihn; denn auch die gleichzeitigen Xenien sorgten dafür. Obgleich Schlosser darin "nie genauer bezeichnet" wurde, "als eine allgemeine Satire auf die Frommen erfordert" (Schiller an G., 31. Juli 96), ging doch direkt auf Kants Schrift das bekannte Epigramm:
"Vornehm nennst Du den Ton der neuen Propheten ? Ganz richtig.
Vornehm philosophiert heißt wie Rotüre gedacht."
Auch Kants zweite Abhandlung, der 'Traktat', machte mit seinen "herrlichen Stellen" (Goethe) und "trefflichen Einfällen" (Schiller) beiden Dichtern großes Vergnügen. Goethe meinte nur Schlosser wenigstens gegen den Vorwurf der Unredlichkeit in Schutz nehmen zu müssen, während der radikalere Schiller "bei allen Streitigkeiten, wo der Supranaturalism von denkenden Köpfen gegen die Vernunft verteidigt wird", auch "in die Ehrlichkeit ein Mißtrauen zu setzen" geneigt ist.
Am kennzeichnendsten aber für Schillers Stellung zu den kritischen Grundwahrheiten auch in den Jahren, wo er nicht mehr unter dem unmittelbaren Einflüsse Kantischen, sondern weit mehr Goetheschen Denkens steht, ist der ausführliche Brief Schillers an Goethe vom 9. Februar 1798 über das zweite Schlossersche Sendschreiben. Wir lassen die äußerst scharfen persönlichen Bemerkungen gegen letzteren weg und geben nur die sachlich-philosophischen Ausführungen wieder: "Was soll man dazu sagen, wenn nach so vielen ... Bemühungen der neuen Philosophen, den Punkt des Streites in die bestimmtesten und eigentlichsten Formeln zu bringen, wenn nun einer mit einer Allegorie anmarschiert kommt, und was man sorgfältig dem reinen Denkvermögen zubereitet hatte, wieder in ein Helldunkel hüllt, wie dieser H. Schlosser tut." "Es ist wirklich nicht zu verzeihen, dass ein Schriftsteller, der auf eine gewisse Ehre hält, auf einem so reinlichen Felde, als das philosophische durch Kant geworden ist, so unphilosophisch und so unreinlich sich betragen darf." Und nun folgen Sätze von ganz besonderem Wert, weil sie das Verhältnis des Dichters zum Philosophen überhaupt charakterisieren: "Sie und wir andern rechtlichen Leute wissen z. B. doch auch, dass der Mensch in seinen höchsten Funktionen immer als ein verbundenes Ganzes handelt, und dass überhaupt die Natur überall synthetisch verfährt, — deswegen aber wird uns doch niemals einfallen, die Unterscheidung und die Analysis, worauf alles Forschen beruht, in der Philosophie zu verkennen, so wenig wir dem Chemiker den Krieg darüber machen" — derselbe Vergleich findet sich öfters auch bei Kant —, "dass er die Synthesen der Natur künstlich aufhebt". "Aber diese Herren Schlosser wollen sich auch durch die Metaphysik hindurch riechen und fühlen, sie wollen überall synthetisch erkennen, aber ... diese Affektation solcher Herren, den Menschen immer bei seiner Totalität zu behaupten, das Physische zu vergeistigen und das Geistige zu vermenschlichen, ist, fürchte ich, nur eine klägliche Bemühung, ihr armes Selbst in seiner behaglichen Dunkelheit glücklich durchzubringen." Und Goethe geht zwar in seiner Antwort am folgenden Tage nicht näher auf das Thema ein, weil ihm — eine Redoute seine "Fakultäten schlimmer voneinander getrennt hat, als die Philosophie nur immer tun kann", aber er nennt Schillers "lieben" Brief "sehr erfreulich und erquicklich" und fällt das Gesamturteil: "Mir war die Schlossersche Schrift nur die Äußerung einer Natur, mit der ich mich schon seit 30 Jahren im Gegensatz befinde."