Krieg und Frieden


So wichtig und grundlegend aber auch die innere Politik, d. h. die Um- und Ausgestaltung des bestehenden Staats zum Rechtsstaat, unserem Philosophen ist, so geht sein "kosmopolitisch-patriotischer" Blick doch auf einen umfassenderen Horizont von den beschränkten Grenzen des eigenen Gemeinwesens zur Gesamtheit aller Kulturstaaten, vom "Staatsrecht" zum "Völkerrecht", und damit zur "Menschheitsfrage" von Krieg und Frieden.

Schon in seiner ersten geschichtsphilosophischen Abhandlung von 1784 hatte Kant seiner festen Zuversicht Ausdruck verliehen, dass der natürliche Lauf der Dinge dereinst die Völker zu einem großen Friedensbunde führen werde. Freilich hatte der folgende Aufsatz (von 1786, Bd. I, S. 323ff.) hinzugefügt: erst nach einer "Gott weiß wann" eintretenden Vollendung der Kultur, bei deren heutigem Stand der Krieg noch unentbehrlich scheine.1) Ähnlich sprach sich die Kritik der Urteilskraft (1790) aus, während die 'Religion innerhalb' (1793) ihn als Geißel des Menschengeschlechts brandmarkt und selbst die Tapferkeit der Kriegsleute, trotz einer ihr anhaftenden uneigennützigen "Erhabenheit", bloß als die höchste Tugend von "Wilden" ansieht. Am eingehendsten hatte endlich die gleichzeitige Abhandlung über Theorie und Praxis ausgeführt, dass zuletzt die finanzielle Ohnmacht der sich gegenseitig zerfleischenden Staaten sie zwingen würde, die Entscheidung über Krieg und Frieden in die Hände des Meistbeteiligten, d. h. des Volkes, zu legen, das sich von selber hüten werde, um bloßer Vergrößerung oder vermeintlicher "Beleidigungen" wegen Kriege zu beginnen. Gegen die stets wieder auftauchende Unterjochungssucht und Rüstungsnotwendigkeit aber bilde das einzige Mittel nicht das äußerst zerbrechliche "europäische Gleichgewicht", sondern "ein auf öffentliche, mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müßte, gegründetes Völkerrecht": wie man sieht, Dinge, an denen sich auch heute noch die Weisheit europäischer wie amerikanischer "Staatsmänner" abmüht.

Trotzdem hat unser Denker diese höchste politische Frage, die "Menschheitsfrage des Friedens", 1795 noch einmal in einer besonderen Schrift behandelt, die man als sein politisches Testament nicht bloß an seine, sondern an alle Zeiten bezeichnen darf: in seinem 'philosophischen Entwurf': 'Zum ewigen Frieden'. Wer diese Abhandlung als eine abstrakte, sentimentale Träumerei betrachtet oder gar mit W. Sombart den traurigen Mut hat, sie für ein schwächliches Erzeugnis der Senilität auszugeben, der hat sie entweder nicht gelesen, oder er besitzt wenigstens keine Ahnung von Kants Wesen und Persönlichkeit. Wer unser Buch bis hierher aufmerksam verfolgt hat, weiß, wie sehr dieser anscheinend bloße "Theoretiker" für politische Tagesfragen interessiert und darin beschlagen, ein wie guter Menschenkenner er ferner war, der sich viele Jahrzehnte unter Vornehm und Gering bewegt hatte und wahrhaftig nicht zu optimistisch in die Welt blickte. Auch in der Abhandlung selbst zeigen sarkastische Bemerkungen über das tatsächliche Tun und Treiben in der "großen" Politik häufig genug, wie entfernt der Verfasser von aller Schwärmerei oder Selbsttäuschung in bezug auf seinen Gegenstand war. Sei es, dass er (wie gleich im ersten Satze) von den "Staatsoberhäuptern" redet, "die des Krieges nie satt werden können", und ihn "wie eine Art Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließen", die lieber in tiefer Demut der Schwere ihres hohen Amtes sich bewußt sein sollten, falls sie Verstand haben, "welches — man doch voraussetzen muß!" Oder von den "weltkundigen" Staatsmännern, die selbstgefällig auf den pedantischen "Schulweisen" mit seinen "sachleeren Ideen" herabsehen und neue Kriegsanlässe aus archivarischen Dokumenten" mit scharfsichtiger "Ausspähungsschicklichkeit" herausklauben oder "aufgeklärt" in beständige Machtvergrößerung, "durch welche Mittel es auch sei", die Ehre ihres Staates setzen, und die als "diplomatisches Corps" allezeit zur Rechtfertigung jedes Krieges bereit sind. Oder von der "neuen Art von Industrie", dass "auch Staaten einander heiraten können". Auch hat er bereits erkannt, dass Geldmacht ein vielleicht noch zuverlässigeres Kriegswerkzeug als selbst Heeres- und Bundesmacht, und dass die Staatsschulden eine "sehr sinnreiche Erfindung" zu diesem Zwecke sind. Die "Präliminar-Artikel" des ersten Abschnitts reden von damals, ja auch heute noch zum Teil recht praktischen Fragen: jesuitischen Friedensschlüssen, Ländertausch, -kauf, oder -vererbung, Vermietung von Truppen, stehenden Heeren oder dem nach Kants Meinung zum Verteidigungskrieg ausreichenden milizartigen Volksheer, gewaltsamer Einmischung in die Verfassung und Regierung anderer Staaten usw. Er weiß, dass gegenwärtig noch die Idee eines zukünftigen beständigen Friedenszustandes "als Schwärmerei verlacht wird". Auch hatte er wenige Jahre zuvor in der Kritik der Urteilskraft, neben der Barbarei auch die vorläufige Unvermeidlichkeit, ja den relativen Nutzen des Krieges und sogar eine gewisse Erhabenheit desselben, "wenn er mit Ordnung und Heilighaltung der bürgerlichen Rechte geführt wird", ohne Scheu betont.

Er gründet darum auch seine Hoffnung auf allmähliche Herbeiführung eines Rechtszustandes, der schließlich den "ewigen" Frieden einleiten könnte, nämlich eines gesicherten Völkerrechts, gar nicht auf den Edelsinn der Menschen — er erklärt sogar auf einem Losen Blatte (bei Reicke, S. 584) ethische Ermahnungen an Fürsten oder Untertanen für das "unnützeste Ding unter allen" —, sondern auf die Einsicht in ihren die Entwicklung von selbst vorwärts treibenden Egoismus (ebd. S. 599, vgl. auch oben Buch III, Kap. 3). Und auf Herstellung eines festen Rechtszustandes, keineswegs auf gefühlsselige "Philanthropie", ist sein ganzes Absehen gerichtet. Der Ausdruck "ewiger" Friede aber enthält keine "chiliastische" Schwärmerei, von welcher der besonnene Kant weit entfernt war, sondern — damit schließt seine Schrift — eine Aufgabe, die nur in einer "ins Unendliche fortschreitenden" Annäherung "nach und nach" gelöst werden kann.

Wie wenig Kant seinen Friedensgedanken auch nach 1795 (wo übrigens der Frieden zwischen Preußen und Frankreich wirklich eingetreten war und Friedensideen auch sonst sozusagen in der Luft lagen) untreu geworden ist, das beweisen seine späteren Schriften, namentlich die Rechtslehre (1797) und der Streit der Fakultäten (1798), welche genau die gleichen Grundsätze vertreten. Zur Entscheidung aller künftigen Zwistigkeiten zwischen den Völkern schlägt schon Kant in der ersteren einen permanenten, mit schiedsrichterlichen Befugnissen bekleideten Staatenkongreß im Haag vor.

 

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1) Zum Beleg für diese und die folgenden Ausführungen verweise ich auf die meiner Sonderausgabe von Kants 'Zum Ewigen Frieden' (Leipzig 1914, 2. Aufl. 1919) beigefügten 'Ergänzungen' (S. 56—74), die zum erstenmal eine Sammlung aller Stellen bringen, an denen sich Kant in seinen Schriften über Krieg und Frieden geäußert hat.


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