c) Wissen und Glauben
Wie verhält sich nun bei Kant die Religion zum theoretischen Erkennen?, oder einfacher ausgedrückt: das Glauben zum Wissen? Bekannt, aber vielfach mißverstanden ist der Satz aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik d. r. V.: "Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." Daraufhin haben ihn schon zu seiner Zeit manche "Gläubige" für ihre Partei in Anspruch nehmen zu dürfen geglaubt. Noch häufiger aber findet man heute, nach dem Vorgang Heinrich Heines und leider auch eines Wissenschafters wie Ernst Haeckel, von oberflächlichen Geistern einen krassen Gegensatz konstruiert zwischen dem unerbittlichen Denker, der die Beweise für das Dasein Gottes auf immer vernichtet, und dem anpassungsfähigen Menschen Kant, der aus zaghafter Nachgiebigkeit auf die Bedürfnisse der Kirche oder aus Mitleid auf die seines alten Lampe Rücksicht genommen habe. Aus dem Zusammenhang gerissen, läßt sich natürlich, wie alle, so auch jener Satz ohne sonderliche Geistesanstrengung in einem derartigen Sinne deuten. Wer indes nur ein wenig in Kants Kritizismus hineingeblickt hat, kann dergleichen Behauptungen nicht aufstellen. "Glaube" bedeutet im kritischen Sinne nichts anderes als den "praktischen", "Vernunft-" oder "moralischen Glauben", der mit dem Kirchenglauben nichts zu tun hat, vielmehr mit ihm in beständigem Kampfe liegt und doch sein oberster Richter und Ausleger sein soll. Dieser aus dem sittlichen Bedürfnis hervorgehender "reine Vernunft-", das ist auf reine Vernunft sich gründende Glaube steht im schärfsten Gegensatz sowohl zu der gänzlichen Unterwerfung der Vernunft unter historische Fakta, wie dem Aberglauben, als einer vergeblichen "Erleuchtung" von oben, wie endlich auch zu einem auf alle Vernunft und Pflicht verzichtenden "Unglauben" ('Über das Orientieren', 1786).
Damit sind wir bei dem Kernpunkte angelangt: der Begründung der Religion auf Moral.