Kants Verantwortung


Der erste Teil, die Verteidigung seiner Lehr- und Schriftstellertätigkeit, ist subjektiv sicher durchaus wahrhaftig. Von persönlicher Unlauterkeit kann keine Rede sein; das verbietet schon nicht nur Kants Charakter überhaupt, sondern auch die erhöhte Feierlichkeit, mit der sich am Schluß der Siebzigjährige auf sein gutes Gewissen und seine mögliche baldige Verantwortung vor einem Höheren beruft; überdies auch die spätere Veröffentlichung des Wortlauts durch ihn selbst. Auch hat er nicht, wie Hasse, feige seine Lehre verleugnet, vielmehr den Vorwurf, dass er seine Stellung als Lehrer und Schriftsteller mißbraucht, entschieden abgewiesen, "öffentlich widerrufen" hätte er, nach einer Aufzeichnung seines Nachlasses (Reicke, E 73, S. 456), nur Ausdrücke, die "vielleicht etwas Seelenverderbliches entfalten" könnten, — "wenn ich mir dessen bewußt wäre".

Dennoch befriedigt uns die "Verantwortung" bei einem Kant nicht ganz. Gewiß alles, was er zu seiner Verteidigung anführt, läßt sich mit Gründen belegen. Baumgartens Handbücher, die er seinen meisten Vorlesungen zugrunde legte, enthielten keine Kritik der Bibel oder des Christentums. Von Hillmer selber war der erste Abschnitt seines Buches freigegeben worden, weil doch nur tiefdenkende Gelehrte die Kantischen Schriften läsen. Auch die reinliche Scheidung zwischen reiner Wissenschaft und "Volkslehre", freiem Denken und landesherrlichen Bestimmungen usw. hatte er schon in seinem Aufsatz über die 'Aufklärung' (1784) als notwendig bezeichnet und in seiner 'Religion' aufs neue verteidigt. Und seiner Hochachtung vor Bibel und reinem Christentum an den verschiedensten Stellen deutlichen Ausdruck gegeben. Auch die Grundtendenz seines Buches verleugnete er nicht, wenn er als das Wesentliche aller Religion das Moralisch-Praktische, als das Zufällige und Außerwesentliche das Historische bezeichnete. Das alles ist richtig, und doch läßt sich gegen seine "Verantwortung" verschiedenes einwenden. Um von Geringerem wie der Tatsache, dass er sich durchaus nicht streng an seine Kompendien hielt und in seinen Vorlesungen über Natürliche Theologie Baumgarten wahrscheinlich überhaupt nicht benutzt hat, zu schweigen, so war seine 'Religion', trotz aller vorsichtigen Klauseln, tatsächlich doch eine Verurteilung der, wie man heute mit einer von dieser Seite nicht ungewohnten Anmaßung sich auszudrücken pflegt, "positiven" Religion. Auch war das Buch und erst recht die von ihm klugerweise nicht berührten Abhandlungen keineswegs bloß für Fachgelehrte verständlich und wohl auch nicht — bestimmt. Und aufklärerische Volksschriften wie die des "Zopf-Schulz", des Dr. Bahrdt, der Philanthropinisten hatte er, wenn auch nicht vor der Öffentlichkeit, gutgeheißen.

So können wir Kants Verantwortung nicht mit Biester (an Kant, 17. Dez. 94) "edel, männlich, gründlich" finden, sondern nur klug, vorsichtig und geschickt, außerdem, wie bei ihm nicht anders zu erwarten, auch würdig in der Form.*) Wie steht es nun aber mit dem zweiten, sein zukünftiges Verhalten betreffenden Punkte?

Anzuerkennen ist, dass er es ablehnt, sein "Ansehen" und seine "Talente" fortan dazu anzuwenden, dass die "landesväterlichen Absichten" Friedrich Wilhelms II. "je mehr und mehr" erreicht würden. Aber er warf doch nicht, wie der freilich ganz anders geartete, auch viel jüngere Fichte in ähnlichem Falle, sein Amt den Machthabern vor die Füße, sondern entging dem Dilemma durch ein freiwilliges Schweigeversprechen. War ein solcher Verzicht auf jede öffentliche Äußerung über religiöse Dinge wirklich notwendig? Schon Biester hat in dem eben erwähnten Briefe gemeint: "Sie bereiten dadurch den Feinden der Aufklärung einen großen Triumph und der guten Sache einen empfindlichen Verlust. Auch, dünkt mich, hätten Sie dies nicht nötig gehabt. Sie konnten auf eben die philosophische und anständige Weise, ohne welche Sie überhaupt nichts schreiben, und welche Sie so vortrefflich rechtfertigen, noch immer fortfahren, über die nämlichen Gegenstände zu reden; wobei Sie freilich vielleicht wieder über die einzelnen Fälle sich zu verteidigen würden gehabt haben. Oder Sie konnten auch künftig bei Ihren Lebzeiten schweigen; ohne jedoch den Menschen die Freude zu machen, sie von der Furcht vor ihrem Reden zu entbinden."

Der Philosoph hat anders handeln zu müssen geglaubt. Können wir seine Stellungsnahme zu der Kabinettsorder nun auch nicht besonders loben, so vermögen wir sie doch aus Kants Überzeugungen heraus zu begreifen. Gewiß hat auch sein Alter, sein Ruhebedürfnis, seine Liebe zur Heimat und zu dem seit Jahrzehnten bekleideten Lehramt, die ihn schon 20 Jahre früher verschiedene Berufungen nach auswärts ablehnen ließ, schließlich seine heftigen Konflikten überhaupt abgeneigte Natur mitgesprochen. Aber von einem ängstlichen Kleben an Amt und Gehalt kann bei ihm keine Rede sein. Wie in seinen Briefen an Biester und Campe, so sprach er auch mündlich gegenüber Borowski (S. 138 f.) "mit großer Ruhe" über die Möglichkeit, nicht bloß die ihm von dem König bewilligte Zulage, sondern auch sein ganzes Gehalt zu verlieren, und verbreitete sich bei der Gelegenheit mit Befriedigung darüber, dass seine frühere Sparsamkeit ihn jetzt in den Stand setze, "der Kriecherei nicht zu bedürfen". Wenn er also auf Absetzung im schlimmsten Falle gefaßt war, so muß sein Verhalten tiefere Gründe gehabt haben. Und diese sind in seinem wahrhaft sokratischen Gesetzlichkeitssinne zu suchen. Am bezeichnendsten dafür ist vielleicht die Tatsache, dass er bereits in jenem am 18. Mai 1794, also ehe der Konflikt an ihn herantrat, geschriebenen Briefe an einen vertrauten Gesinnungsgenossen wie Biester, demgegenüber er kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte, den Satz niederschrieb: "Wenn neue Gesetze das gebieten, was meinen Grundsätzen nicht entgegen ist, so werde ich sie ebenso pünktlich befolgen; eben das wird geschehen, wenn sie bloß verbieten sollten, seine Grundsätze ganz, wie ich bisher getan habe (und welches mir keineswegs leid tut) bekannt werden zu lassen." Dass die Entscheidung sich nicht ohne schwere innere Kämpfe bei ihm vollzogen hat, darauf weist, scheint uns, ein Nachlaßzettel hin, in dem es heißt: "Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig, aber Schweigen in einem Falle, wie der gegenwärtige, ist Untertanenpflicht; und wenn alles, was man sagt, wahr sein muß, so ist darum nicht auch Pflicht, alle Wahrheit öffentlich zu sagen." Das ist der echte Kant, wie er leibt und lebt: in Fragen des Prinzips entschieden bis zur Schroffheit, in der Art der Ausführung nachgiebig, soweit er es irgend mit seinen Grundsätzen für verträglich hält. Und da ein eigentlicher "Widerruf" nicht verlangt wurde, so hielt er es mit dem Worte: "Schicket Euch in die Zeit!": diese unfreie Zeit, die ihn, wie wir im vorigen Kapitel sahen, zu den mancherlei Verklausulierungen seiner freiesten Gedanken, zu seinen gewundenen Ratschlägen an den jungen Fichte veranlaßt hat.

Er hoffte, dass diese böse Zeit über kurz oder lang vorübergehen würde. Ja, er hielt sich durch sein Versprechen nur für die Dauer der Regierung des zeitigen Königs gebunden. In dieser Absicht wählte er, wie er selbst gesteht, "vorsichtig" — vorsichtig war ja überhaupt sein ganzes Verantwortungsschreiben ausgedacht — den Ausdruck, er gebe seine Erklärung "als Ew. Majestät getreuester Untertan", damit "ich nicht der Freiheit meines Urteils in diesem Religionsprozeß auf immer, sondern nur — so lange Se. Maj. am Leben wäre, entsagte" und, wie es in einer Aufzeichnung seines Nachlasses heißt, unter Friedrich Wilhelms Nachfolger "wiederum in meine Freiheit zu denken eintreten könnte". Uns Nachlebenden (und doch auch schon Königsberger Bekannte, wie Borowski) mutet freilich eine solche gewollte Doppelsinnigkeit des Ausdrucks einigermaßen sophistisch, um nicht zu sagen fast wie eine jesuitische "Mental-Reservation" an, die sich mit seiner bekannten rigoristischen Strenge, sogar der Notlüge gegenüber, wie er sie gerade während jener Schweigezeit in einem Aufsatze der Berliner Blätter ('Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen') noch besonders betonte, nicht im Einklang befindet. Indes er hat sich dabei offenbar nichts Schlimmes gedacht, sonst hätte er doch nicht mit solcher naiven Offenheit diesen listigen kleinen "geistigen Vorbehalt" selbst aller Welt bekanntgegeben. Wir meinen das behaglich-schlaue Lächeln zu sehen, mit dem er diese Worte für seine Leser niederschrieb. War eine solche Kriegslist im Kampfe gegen einen so gewalttätigen Gegner nicht erlaubt? Unter einer folgenden Regierung mit liberalen Grundsätzen würde er ja doch seine frühere Lehr- und schriftstellerische Freiheit wieder besitzen und, falls sein peinliches Rechtsbewußtsein außerdem noch eine besondere Aufhebung des Schreibverbots gewünscht hätte, so wäre man auch dem sicher nachgekommen: das konnte er sich bereits im Oktober 1794 sagen. Wenn er also jenen Zusatz machte, der seinen Verzicht, wie es eigentlich selbstverständlich war, nur für die Zeit der Dauer solcher Regierungsgrundsätze aussprach, so geschah es wohl mehr zur Beruhigung seiner eigenen Gewissenhaftigkeit. Jedenfalls war er sich des Sophismus, der seiner Ausdrucksweise auch meines Erachtens anhaftet, persönlich nicht bewußt.

 

______________________

*) Ebenso urteilt E. Arnoldt in seinen lesenswerten 'Beiträgen zu dem Material der Geschichte von Kants Leben und Schriftstellertätigkeit in bezug auf seine Religionslehre usw.'. Ges. Schriften, herausg. von O. Schöndörffer, Bd. VI, S. 105—207.


 © textlog.de 2004 • 25.12.2024 04:13:53 •
Seite zuletzt aktualisiert: 18.01.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright