Baukunst - Wesen der Baukunst
Das Wesen der Baukunst, insofern sie die Frucht des vom Geschmack geleiteten Genies ist, besteht darin, dass sie den Gebäuden alle ästhetische Vollkommenheit gebe, deren sie, nach ihrer Bestimmung, fähig sind. Vollkommenheit, Ordnung, Schicklichkeit der inneren Einrichtung; Schönheit der Form, ein schicklicher Charakter, Ordnung, Regelmäßigkeit, guter Geschmack in den Verzierungen von Außen und innen; dieses sind die Eigenschaften, die der Baumeister jedem Gebäude geben muss.
Also muss er, wenn ihm die eigentliche Bestimmung desselben angezeigt wird, die Hauptteile in der schicklichsten Größe, jeden, wie er zum Gebrauch am vollkommensten ist, erfinden; die gefundenen Hauptteile dergestalt in ein Ganzes zusammen verbinden und anordnen, dass nicht nur jeder Teil seinen schicklichen Ort bekomme, sondern das ganze, auswendig und inwendig, ein wohl überlegtes, bequemes, seinem Charakter und seiner Bestimmung richtig entsprechendes und nach seiner Form wohl in die Augen fallendes Werk ausmache; jeder einzelne Teil muss bis auf die geringste Kleinigkeit so sein, wie er sich zu dem, was er sein soll, am besten schickt. Es muss überall Verstand, Überlegung und guter Geschmack aus dem Werk hervor leuchten. Alles unnütze, alles unbestimmte, alles widersprechende, alles verworrene, muss auf das sorgfältigste vermieden werden. Wenn das Auge durch die gute Form des Ganzen gereizt worden, so muss es so gleich auf die wesentlichen Hauptteile geleitet werden, selbige wohl unterscheiden können und wenn es davon gesättigt ist, auf die kleineren Teile geführt werden; deren Bestimmung, Notwendigkeit und Schicklichkeit zum Ganzen einleuchtend fühlen. In dem Ganzen muss eine solche Harmonie, ein solches Gleichgewicht der Teile sein, dass kein Teil zum Schaden des Ganzen weder hervor steche, noch durch Mangel und Unvollkommenheit die Aufmerksamkeit störe. Kurz, alle Weisheit und aller Geschmack, den man an dem äußern und inneren Bau des menschlichen Körpers bewundert, daran alles vollkommen ist, muss nach Beschaffenheit des Gegenstandes auch in einem vollkommenen Gebäude zu bemerken sein.
Also hat der Baumeister, wie jeder andere Künstler, die Natur für seine eigentliche Schule zu halten. Jeder organisierte Körper ist ein Gebäude; jeder innere Teil ist vollkommen zu dem Gebrauch, wozu er bestimmt ist, tüchtig; alle innere Teile sind in der bequemsten und engsten Verbindung; das Ganze hat zugleich in seiner Art die beste äußerliche Form und ist durch gute Verhältnisse, durch genaue Übereinstimmung der Teile, durch Glanz und Farbe angenehm. Diese Eigenschaften hat auch jedes vollkommene Gebäude. Man könnte deswegen mit einigem Schein behaupten, dass dem Baumeister die Erfindungskraft und das Genie noch nötiger sind als dem Maler; denn dieser kann schon durch eine pünktliche Nachahmung der Natur gute Werke hervor bringen, da der andere nicht die Werke der Natur, sondern das Genie und den Geist derselben nachzuahmen hat, wozu mehr als ein bloß leibliches Auge nötig ist. Der Maler erfindet seine Formen nicht, sie sind schon in der Natur vorhanden; aber der Baumeister muss sie erschaffen. Deswegen gereicht die Vollkommenheit der Baukunst einer Nation zu nicht geringerer Ehre als die ist, die sie durch andere Talente erwerben kann. Elende Gebäude, die bei einer gewissen Größe weder Bequemlichkeit noch Regelmäßigkeit haben; bei denen widersinnige Veranstaltungen, abenteuerliche Verhältnisse, Unfleiß der Arbeit und andere Mängel dieser Art durchgehends herrschen, sind ein untrüglicher Beweis von dem Unverstand und dem schlechten Gemütszustand einer Nation. Vorteilhafte Begriffe hingegen muss man von der Denkungsart eines Volkes bekommen, das auch in seinen geringsten Gebäuden und in den kleinsten Teilen derselben, wahren Geschmack, Überlegung, Schicklichkeit und edle Einfalt zeigt? Bei den Thebanern war ein Gesetz, nach welchem ein Maler, der ein schlechtes Werk verfertigt hatte, um Geld gestraft wurde [s. Älianus Var. hist. L. IV. c. 4]. Wichtiger wäre es, in einem gesitteten Staat Gesetze zur Verhütung grober Fehler gegen die Baukunst einzuführen. Die Aufnahm der Baukunst und ihr Einfluss auf die geringste Privatgebäude ist gewiss der Aufmerksamkeit eines Gesetzgebers nicht unwürdig; und so gut, nach dem Urteil der ehemaligen Spartaner, die Musik einen Einfluss auf die Sitten haben kann, so gewiss kann die Baukunst dieses tun. Schlechte, ohne Ordnung und Verstand entworfene und aufgeführte oder mit närrischen, abenteuerlichen oder ausschweifenden Zierraten überladene Gebäude, die in einem Lande allgemein sind, haben unfehlbar eine schlimme Wirkung auf die Denkungsart des Volks.
Der gute Geschmack der Baukunst ist im Grunde eben der, der sich so wohl in anderen Künsten als in dem ganzen sittlichen Leben der Menschen vorteilhaft äußert. Seine Wirkung ist, dass in einem Gebäude nichts unüberlegtes, nichts unverständiges, nichts, das der Richtigkeit der Vorstellungskräfte zuwider ist, angetroffen werde; dass jeder einzelne Teil sich zum ganzen wohl schicke; dass das Ansehen und der Charakter oder das Gepräge des Gebäudes, mit seiner Bestimmung wohl überein komme; dass kein Teil und keine Zierrat daran sei, von der man nicht ohne Umschweif sagen könne, warum sie da sei: dass die edle Einfalt dem Überfluss an Zierraten vorgezogen werde; dass endlich aus jedem einzeln Teile Fleiß und Verstand deutlich hervor leuchten. An den wenigen Gebäuden, die von der guten Zeit der griechischen Baukunst übrig geblieben sind, zeigen sich alle diese Eigenschaften deutlich; sie können als Muster des reinen Geschmacks angesehen werden.
Die ersten Bemühungen in dieser Kunst entstehen natürlicher Weise bei jedem Volke, so bald es sich aus der gröbsten Barbarei losgerissen, Muße zum Nachdenken und Begriffe von Ordnung, Bequemlichkeit und Schicklichkeit, bekommen hat. Denn es ist dem Menschen natürlich, das Ordentliche der Unordnung vorzuziehen. Also fällt der Ursprung der Baukunst in die entferntesten Zeiten und ist nicht bei einem Volk allein anzutreffen. Es würde angenehm und lehrreich sein, die Hauptarten des Geschmacks in der Baukunst, durch Aufzeichnung einiger Hauptgebäude der, diese Kunst übenden, aber sonst keine Gemeinschaft unter sich habenden, Nationen, vor Augen zu legen. Es würde sich viel von dem Nationalcharakter derselben daraus bestimmen lassen. Man würde zwar in allen dieselben Grundgesetze, aber auf sehr verschiedene Weise angewendet, finden.