Beweisgründe. Zugestandene oder offenbare Wahrheiten, aus welchen der Beweis anderer in Zweifel gezogenen Wahrheiten hergeleitet oder wahrscheinlich gemacht wird. Wenn in einer Klagsache jemand eines Diebstals beschuldigt wird, und der Ankläger die Wahrheit der Beschuldigung damit erweisen will, dass der Beklagte seit der Zeit des geschehenen Diebstals reich ist, da er sonst arm gewesen, so ist diese schnelle Veränderung der Armut in Reichtum der Grund des Beweises. Die Erfindung der Beweisgründe ist ein wichtiger Teil der Beredsamkeit: deswegen haben auch die alten Lehrer der Redner, besonders Aristoteles und Cicero weitläufig von dieser Sache geschrieben.
Die Erfindung der Beweisgründe wird dadurch sehr erleichtert, dass man dem Redner die Quellen anzeigt, aus welchen in verschiedenen Fällen die Beweisgründe zu schöpfen sind.
Es gibt überhaupt zwei Wege, eine Sache zu erweisen; die Erfahrung und die Vernunftschlüsse. Beweise durch Vernunftschlüsse nennten die Alten überlegte, durch Kunst geführte Beweise, da sie die, welche aus der Erfahrung genommen werden, unkünstliche hiessen. Diese sind Zeugnisse, Dokumente und Schriften. Die Quellen der anderen sind mannigfaltig, und bedürfen einer nähern Erforschung.
Es gibt ebenfalls zwei Hauptwege, eine Sache vernunftmäßig zu beweisen, ein gerader, der ohne alle Umschweife zum Zweck führt und ein Umweg, welcher vorher auf andere Wahrheiten leitet, von denen danach ein gerader Weg zu derjenigen hinführt, die zu erweisen ist. Man betritt den geraden Weg, wann man den Beweis unmittelbar aus der Natur der Sache, wovon die Rede ist, herleitet und man nimmt den Umweg, wenn man etwas, das außer der Hauptsache liegt, zum Grunde des Beweises legt und danach hieraus durch natürliche Verbindung zur Hauptsache kommt. In Fragen, die gewisse Vorfälle oder geschehene Sachen betreffen, kann man oft aus genauer Betrachtung der vorgegebenen Sache und ihrer Umstände zeigen, dass das Vorgeben falsch ist. Dies ist der gerade Weg zu beweisen. Liegt in der Sache selbst nichts, woraus der Beweis könnte geführt werden, so findet sich oft, zu demselben Behuf, etwas außer ihr. Man beweißt nämlich, dass die Sache, wenn sie wahr wäre, diese oder jene Folge hätte nach sich ziehen müssen und zeigt, dass dieses nicht geschehn.
Daraus schließt man, dass also das Vorgeben falsch sei; dies ist ein Umweg. Eben dieses hat auch in Fällen statt, wo die Beschaffenheit einer Sache untersucht wird. Nämlich die Beschaffenheit der Sache, welche man erhärten will, wird entweder aus der Natur der Sache geradezu erwiesen oder man erweißt die Rich tigkeit einer anderen Sache und zeigt danach, dass aus dieser auch jene notwendig folge.
Wir müssen aber, um diese Sache näher zu beleuchten, die besonderen Fälle dieser beiden Hauptgattungen der vernunftmäßigen Beweise, betrachten. Dasjenige, was man beweisen will, lässt sich allemal auf einen einfachen Satz bringen, in welchem von einer Sache etwas gesagt wird; das ist, nach den Ausdrücken der Schulen zu reden, wo ein Subjectum und ein Præ dicatum ist. Mithin kann der Redner sich umsehen, ob die Natur des einen oder des anderen ihm den besten Grund zum Beweis abgebe. Er wird bald sehen, welche von beiden ihn am sichersten zum Zweck führen. Wir wollen setzen, der Redner habe unternommen, einen der Verräterei gegen den Staat angeklagten zu verteidigen; so ist der Satz, den er zu beweisen hat, dieser: Dieser Mann hat den Staat nicht verraten. Der Beweis soll aus der Natur der Sache genommen werden.
Hierbei ist offenbar, dass der Redner entweder den Begriff des Staats oder den Begriff des Verrats zum Grunde legen kann. Findet er, dass die Tat, wenn sie gegen den Staat unternommen wäre, wirklich eine Verräterei wäre, so muss er suchen zu beweisen, dass sie nicht gegen den Staat, sondern gegen gewisse Personen unternommen worden. Z. E. gegen einige Glieder der Regierung, die man nicht mit dem wahren Souverain verwechseln muss. Ist aber der Fall so, dass die Handlung wirklich den Staat betrift; so muss der Redner seinen Beweis aus der Natur der Handlung hernehmen und zeigen, dass sie fälschlich eine Verräterei genannt werde.
Ein nachdenkender Redner kann selten lange im Zweifel stehen, ob er seinen Beweis aus der Natur des Subjecti oder des Prædicati hernehmen soll; denn nach genauer Untersuchung der Sache, wird er bald finden, aus welchem er die größte Überzeugung bewirken könne. Weiß er zum voraus, auf welches von beiden der Ankläger hauptsächlich die Klage gründen wird; so ist seine Wahl oft dadurch bestimmt.
Können ihm beide zu Beweisgründen dienen und er ist ungewiss, worauf der Ankläger hauptsächlich bestehen wird; so kann er einen doppelten Beweis führen, den einen aus der Natur des Subjecti, den anderen von dem Prædicato hergenommen.
Bei einem aus der Natur der Sache hergenommenen Beweis setzt Cicero drei besondere Fälle. Entweder gründet sich der Beweis auf die ganze Natur und das Wesen der Sache, so dass der Redner beweisen kann, das Wesen derselben mache sein Vorgeben notwendig; oder wenn das Wesen der Sache nicht kann bestimmt werden, so nimmt man alle ihre Eigenschaften besonders und zeigt, wie jede den Satz bestätiget; oder die Hauptsache kommt nur auf eine ein zige Eigenschaft der Sache an, so hält man sich an dieser allein. Im ersten Fall ist also der Beweisgrund, die Sacherklärung; (definitio rei) im zweiten die Zergliederung der Sache, wodurch alle ihre Eigenschaften angegeben werden; (partium enumeratio) endlich im dritten Fall ist der Beweisgrund eine Worterklärung, da man aus dem Namen der Sache, wodurch ihr eine gewisse Eigenschaft beigelegt wird, den Beweis herleitet. (ex notatione) Folgende drei Beispiele werden diese drei Arten der Beweisgründe erläutern.
Beweis, der aus der Erklärung der Sache hergenommen ist. »Wenn die Majestät des Römischen Staats in seinem Ansehen und in seiner Würde besteht, so beleidigt der diese Majestät, welcher den Feinden des römischen Volks sein Heer überliefert; nicht der, welcher denjenigen, der dieses getan hat, dem Volke zur Bestrafung einliefert.« Hier wird der Beweis auf die Erklärung des Begriffs Majestät gegründet.
Beweis aus Zergliederung der Sache. »In diesen Umständen waren nur drei Wege möglich. Entweder, man musste dem Befehl des Senats gehorchen; oder man musste eine neue Beratschlagung veranlassen; oder man musste endlich nach seinem eigenen Gutdünken handeln. Eine neue Beratschlagung zu veranlassen, hieß sich zu viel herausnehmen; nach Gutdünken zu handeln, wäre Vermessenheit; also blieb nichts übrig als dem Befehl des Senats zu gehorchen.«
Beweis aus der Worterklärung. »Wenn der ein Consul genannt wird, welcher dem Vaterland mit gutem Rat und mit Tat beisteht; was hat denn Opimius anders getan?«
Kann man auf keinem dieser geraden und kurzen Wege zum Beweis der Sache kommen, weder durch das Subjectum noch durch das Præ dicatum des Hauptsatzes, so muss man sich außer der Sache nach irgend einer Wahrheit umsehen, mit welcher der zu erweisende Satz in einer solchen Verbindung steht, dass er selbst aus jener herzuleiten sei. Hier ist es nun unmöglich, alle einzelne Fälle solcher Verbindungen herzusetzen. Cicero gibt derer dreizehn an und Aristoteles, der jede Frage durch alle Abteilungen. erschöpfen wollte, zählt über dreihundert. Wir überlassen jedem diese Dinge in den Topicis dieser Lehrer selbst nachzusehen.
Ist der Redner ein Mann, der sich lang in Untersuchung der Wahrheit geübt hat, so werden ihm ohne künstliche Hülfsmittel die Dinge einfallen, welche mit seiner Hauptfrage in Verbindung stehen; besonders, wenn er sich überhaupt auf die Art, wie wir im Art. Erfindung gezeigt haben, im Erfinden geübt hat. Wir wollen also hier nicht weiter gehen als dass wir diese Materie mit einem guten Beispiel erläutern.
Es ist keine Wahrheit, sie gehöre in die Klasse der Begebenheiten oder unter die Erforschungen der Vernunft, die nicht entweder in wesentlichen oder zufälligen Dingen mit anderen Wahrheiten in irgend einer Art der Beziehung stehe. Es müssen andere Dinge ihr vorgehen oder zugleich neben ihr sein oder darauf folgen. Eine Begebenheit muss Veranlassung, Gelegenheit, Ursachen gehabt haben; sie steht mit der Zeit und anderen zugleich vorhandenen Umständen in Verbindung; sie hat endlich ihre Folgen. So muss auch ein Satz der Vernunft seine Gründe haben, aus denen er begreiflich wird; es müssen andere Wahrheiten zuvor erkannt gewesen sein, ehe er hat können erkannt werden; er muss gewisse Folgen haben. Ist der Satz unstreitig wahr, so müssen alle die, welche ihm entgegen stehen, falsch sein; alle die aber, welche er voraussetzt, wahr.
Wenn also die deutlichen Begriffe von dem Subjecto oder Prædicato des Hauptsatzes entweder fehlen oder nicht ausführlich genug sind, die Sache zu beweisen; oder wenn in einer geschehenen Sache nichts widersprechendes ist, wenn sie nicht kann geleugnet werden, um einen Beklagten zu retten; wenn sein Charakter nichts zu seiner Verteidigung an die Hand gibt, so muss man dann auf alle Dinge acht haben, die mit der Hauptsache in irgend einer Verbindung stehen oder eine Beziehung auf sie haben.
Wir wollen demnach in einer Frage, die von Vernunftschlüssen abhängt, setzen, man wolle erweisen, dass eine begangene Tat nicht gegen die Gesetze streite und man habe sich vergeblich bemüht, in der Natur der Handlung und in dem Sinn der Gesetze, etwas zur Entschuldigung zu entdecken, so wird man auf andere Sachen, worauf die Gesetze oder die Handlung sich bezieht, denken müssen. Man beweißt z. B. dass die Handlung einerlei ist, mit einer anderen bekannten, welche jedermann für unschuldig und rechtmäßig gehalten hat. Oder man beweißt aus Beispielen, dass das Gesetz auf eine gewisse Weise müsse verstanden werden und zeigt daraus, dass es auf den Fall, wovon geredet wird, nicht gehe. Man kann bisweilen auch aus den offenbar schlimmen Folgen, die ein Gesetz haben müsste, wenn es auf gewisse Weise verstanden würde, zeigen, dass es auf den vorhabenden Fall nicht gehe.
Eben so geht es mit Begebenheiten. Man beweißt, dass der Beklagte damals als sie geschehen, an einem entlegenen Ort gewesen; dass er unmittelbar vorher oder nachher Sachen getan, wodurch diejenige, der man ihn beschuldigt, unmöglich oder höchst unwahrscheinlich wird.