Beweis - Wahrheit und Deutlichkeit


Hier bleibt übrig von dem zu sprechen, was der Redner überhaupt, bei den Beweisen zu bedenken hat. Zu jedem Beweis werden zwei Eigenschaften erfordert, Wahrheit oder doch Wahrscheinlichkeit, und Deutlichkeit oder wenigstens große Klarheit.

Die Wahrheit der Sache hängt zwar nicht von dem Redner ab, sie muss in der Sache selbst liegen, aber bei ihm steht es sie zu erforschen und anderen fühlbar zu machen. So lange der Redner die Wahrheit der Sache, die er behaupten will, nicht selbst einsieht, so ist es vergeblich den Beweis zu unternehmen; und wenn er so gar vom Gegenteil überzeugt ist, so muss er sich dieses nicht einfallen lassen. Wenn also der Redner sich in vorkommenden Fällen nicht bloßstellen will, so muss er überhaupt bei Erlernung der Kunst und in seinen Bemühungen in derselben vollkommener zu werden, sich eine große Gründlichkeit angewöhnen und sich vor aller Spizfindigkeit, der falschen Gründlichkeit kleiner Geister, mit äußerster Sorgfalt hüten.

Zu dem Ende muss er sich in gründlichen Wissenschaften fleißig üben, damit er sich ein scharfes Nachdenken angewöhne und aus seinem eigenen Gefühl wisse, was wahre Überzeugung sei. Hiernächst befleiße er sich auch überhaupt durch beständiges Nachdenken die Gründlichkeit des Geschmacks zu bekommen, wodurch in jeder Sache das Große und Wichtige von dem kleinen und unerheblichen richtig unterschieden wird. Er gewöhne sich jede Vorstellung auf die Waage der gesunden Vernunft zu legen, um zu sehen, ob sie ein merkliches Gewicht habe. Das was wirklich wichtig ist, halte er allein wert überdacht und dem Gedächtnis anvertraut zu werden; alles andere lasse er fahren.

Am allermeisten hüte er sich für Spitzfindigkeit, wodurch irgend ein Schein für das Ansehen einer Sache erzwungen wird, dessen Nichtigkeit eher durch die gesunde Vernunft zu fühlen als durch den Verstand deutlich aus einander zu setzen ist. Es ist besser, dass man die Sachen, die nicht einen überwiegenden, sehr fühlbaren Grad der Wahrheit haben, für unausgemacht halte, wenn man sich gleich darin betröge als dass man von leichtem Geiste regiert, alles scheinbare annehme, aus Furcht sich etwas gutes entgehen zu lassen.

Unumgänglich notwendig ist es, um ein gründlicher Redner zu sein, dass man keine falsche Sache zu beweisen übernehme, auch keine zu deren Erhärtung man nicht offenbare Gründe vor sich sieht. Denn in diesem Fällen muss man Beweise erzwingen oder erschleichen. Erkennt man die Sache mit überlegender Vernunft für wahr, so wird man durch genugsames Nachdenken allemal auch einen richtigen Beweis dafür finden.

Diesen Geschmack der Gründlichkeit muss man durch fleißiges Lesen der vorzüglich gründlichen Reden der besten griechischen und römischen Redner und Philosophen erhöhen. Fürnehmlich müssen die besten Reden des Demostehnes und Cicero vielfältig gelesen werden.

Zu der Gründlichkeit in dem Beweisen muss auch die Deutlichkeit hinzukommen. Zwar nicht die philosophische Deutlichkeit, die jede Vorstellung bis auf die einfachen Begriffe zergliedert, sondern die ästhetische Deutlichkeit, die bei dem klaren Gefühl der Sachen stehen bleibt. Der Redner bleibt in einzeln Begriffen bei der anschauenden Erkenntnis stehen, sucht aber denselben einen hohen Grad der Klarheit und Lebhaftigkeit zu geben. (s. Überzeugung.) Diese Fertigkeit deutlich zu sein, bekommt man nicht ohne große Bemühung und lange Übung. Die meisten Menschen haben aus einer angeborenen Trägheit des Geistes sich angewöhnt, mit klaren und dabei verworrenen Begriffen und Vorstellungen zufrieden zu sein. Diese unglückliche Trägheit muss der gute Redner schlechterdings überwunden haben. Er muss niemals zufrieden sein, bis er jeder Vorstellung, die seinen Geist zu beschäftigen würdig genug ist, den höchsten Grad der Deutlichkeit, der er fähig ist, gegeben hat. Zu dem Ende muss er sich unnachläßig in den Versuchen üben, alles deutlich zu sehen und das, was er selbst so sieht, mit der höchsten Klarheit auszudrücken.


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