Beredsamkeit - Römische Antike, Neuzeit
Auf eine ganz ähnliche Weise ist die Beredsamkeit auch in Rom aufgekeimt, zur vollen Reife erwachsen und wieder verwelkt. Die ersten Redner des römischen Volks hatten keinen Lehrmeister als ihren guten und scharfen Verstand, von dem Eifer für das allgemeine Beste begleitet. Die kurze Rede des Tiberius Gracchus, die Plutarchus aufbehalten hat [s. Plut. in den Gracchen.], ist ein Meisterstück einer starken natürlichen Beredsamkeit. Lange hatten die römischen Redner keinen anderen Lehrer dieser Kunst als die Natur. Als sie nachher mit den Griechen bekannt wurden, lernten sie von ihnen, die Beredsamkeit als eine Kunst zu studiren und zu üben. Man lernte sie, wie in Athen, um dadurch einen Einfluss auf die Entschließungen des Senats und des Volks zu haben oder wichtigen Rechtssachen, deren Entscheidung oft vom ganzen Volke abhieng, eine günstige Wendung zu geben. Das Ansehen und die Macht, die man sich in Rom durch die Beredsamkeit geben konnte, brachte diese Kunst in große Achtung. Man sah Redner entstehen, die sich neben dem Perikles und Demosthenes hätten zeigen können. Zu dem höchsten Flor kam sie ebenfalls in dem Zeitpunkt, da die Freiheit gegen die Unterdrückung der Republick kämpfte. Eben die erhabenen Bestrebungen, die der atheniensische Redner anwendete, den Fall der griechischen Freiheit aufzuhalten, wendete auch Cicero an, Rom denselbigen Dienst zu tun. Der Untergang der Freiheit bewirkte in Rom, gerade wie in Griechenland, dieselbe Ausartung der Beredsamkeit, nur mit dem Unterschied, dass die Römer, deren Genie weniger zu Spitzfindigkeit geneigt war, sich niemals bis zu den unendlichen Kleinigkeiten der Rhetorik herunter gelassen, an welche sich die späteren griechischen Rhetoren hielten.
Mit Cicero starb das Große dieser Kunst; aber wie sich in einem toten Leichnam die Wärme noch eine Zeitlang hält, so hielt sich auch etwas von dem scheinbaren Leben derselben nach dieses großen Mannes Tode.*) Ob gleich die politische Beredsamkeit mit der Freiheit ihren völligen Untergang fand, so erhielt sich doch die gerichtliche noch lange Zeit; auch blieb überhaupt unter der Regierung der Cäsarn und einiger nachfolgender Kaiser ein Teil der Hochachtung, die man in den letzten Zeiten der Republick für diese Kunst hatte. Gut sprechen zu können war noch eine Zeitlang ein Talent, welches zu besitzen selbst die unumschränkten Herren der Welt für keine Kleinigkeit hielten. Allein das große Interesse, das allein der Beredsamkeit das wahre Leben geben kann, war weg; und auch das wenigere Interesse, wodurch die gerichtliche Beredsamkeit sich erhalten hatte, fiel auch immer mehr und endlich versank die Beredsamkeit, wie ein todter Leichnam, in eine ekelhafte Verwesung.
Als man in den neueren Zeiten wieder anfing, die Wissenschaften und Künste der Alten aus dem Staube hervor zu suchen, war die Beredsamkeit eine der ersten, die die Achtung der Neueren auf sich zog. Aus der Asche der griechischen und römischen Redner entstand etwas, das man als eine Frucht der alten Kunst zu reden ansehen konnte, ob es gleich nur eine schwache und entfernte Ähnlichkeit mit ihr hatte. Diese Abartung war eine natürliche Folge des minder fruchtbaren Bodens. Die Neueren lernten die Beredsamkeit wieder hochschätzen, aber zu der Vollkommenheit, auf welcher sie bei den Alten war, konnten sie dieselbe nicht bringen; denn die großen Triebfedern, wodurch diese Kunst bei den Alten ihre Stärke erhalten hatte, waren nicht mehr vorhanden. Durch die Beredsamkeit kann man in den neueren Zeiten Ehre und Ansehen bei einem sehr kleinen Teil seiner Nation erhalten; aber politische Macht, Einfluss auf die Entschließungen der Regenten, auf das Schikcksal ganzer Völker, ist kaum mehr daher zu erwarten. Also wird auch ein Genie, wie Demosthenes oder Cicero gewesen, niemals zu der Größe kommen, die wir an diesen Männern bewundern.
Das stärkste Bestreben, durch Beredsamkeit groß zu werden, scheint in den neueren Zeiten sich in Frankreich zu äußern, wo man durch diese Kunst sich wenigstens einen großen Namen machen und bei vielen zu großem Ansehen kommen kann. Da, wo es dem Eifer für das gemeine Beste und für die Erhaltung eines Rests der Freiheit noch vergönnt ist, gegen die Unterdrückung zu kämpfen, in einigen Parlamenten, sieht man noch bisweilen Werke hervorkommen, die selbst Athen und Rom nicht würden gering geschätzt haben. Es ist auch in diesem Lande nicht ganz unerhört, dass die Beredsamkeit, die ihre Stimme bloß in Schriften erhebt, von einigem Einfluss auf allgemeine Staatsentschließungen gewesen sei. Allein bloß durch Schriften reden, macht nur einen Teil der Kunst aus. Demosthenes selbst hat den mündlichen Vortrag für den wichtigsten Teil derselben gehalten. Also können die, welche nur durch Schriften mit ihrer Nation reden, die Kunst niemals in ihrer Stärke brauchen.
Deutschland scheint (es sei ohne Beleidigung gesagt) in seiner gegenwärtigen Verfassung, ein für die Beredsamkeit ziemlich unfruchtbarer Boden zu sein. Zu sagen, dass es den Deutschen an Genie dazu fehle, wäre ohne Zweifel eine grobe Unwahrheit; dass aber dem Deutschen, der von der Natur die Talente des Redners empfangen hat, die Triebfedern sich zu einer gewissen Größe zu schwingen, ganz fehlen, ist eine Wahrheit, die niemand leugnen kann. Unsre Höfe sind für die deutsche Beredsamkeit unempfindlich; unsere Städte haben eine allzugeringe Anzahl Einwohner, die von schönen Künsten gerührt werden; und die wenigen, die das Gefühl dafür haben, sind nicht von dem Ansehen, um Eindruck auf das Publikum zu machen. Wie wenig Kraft kann also Lob oder Tadel auf ein männliches Gemüte haben, da beide von so wenigen und so unbeträchtlichen Menschen herkommen können? in Athen war das ganze Volk das, was in Deutschland die kaum zu merkende Zahl; guter Kenner ist; es hatte Geschmack.**) Die bekannte Anekdote vom Theophrastus, der wegen seines Akzents von einem gemeinen Weib ist getadelt worden, beweißt, dass in Athen der gemeinste Mensch ein Ohr und ein Gefühl für die Schönheiten der Rede gehabt, das in Deutschland nur die wenigen Kenner haben. Noch verträgt das deutsche Ohr alles, so wie das deutsche Aug, wenn es nur nicht gegen eine Nationalmode streitet. In schönen Künsten aber ist noch nichts zur Mode worden. In Athen war eine ungewöhnliche Gebärde des Redners, eine nicht ganz attische Redensart, eben so anstößig als dem deutschen Volk eine ungewöhnliche Form des Huts wär.***) Sah das ganze Volk in Athen auf Kleinigkeiten, wie viel mehr, musste der Redner in wichtigen Dingen sorgfältig sein.
Ein Hauptgrund, warum bei jenen Alten, so wohl alle schönen Künste überhaupt als die Beredsamkeit insbesondere, zu einem höheren Grad der Vollkommenheit gekommen, liegt in der öffentlichen und feierlichen Anwendung derselben, wodurch der Redner die wahre Begeisterung empfindet. Dieses fehlt auch in den größten Städten Deutschlands ganz, da selbst die Feierlichkeiten der Religion alles festliche und die Einbildungskraft ergreifende, verloren haben.
Bei diesen der Beredsamkeit so ungünstigen Umständen, müssen wir uns begnügen, wenigstens eine ganz kleine Anzahl Schriftsteller zu haben, (und diese hat Deutschland, wie wohl erst seit kurzem) an denen man die zur Beredsamkeit nötigen Talente nicht vermißt und die die Hoffnung unterhalten, dass diese wichtige Kunst auch unter dem deutschen Himmel sich in ihrer Stärke zeigen werde, so bald die Umstände der Nation es zulassen werden.
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*) Der Jesuit Strada wendet ein Gleichnis, dessen sich Plutarchus bedient hatte, um den Verfall der griechischen Monarchie nach Alexanders Tode abzubilden, scharfsinnig auf den Verfall der Beredsamkeit nach Ciceros Tode an. Vt abeunte anima cadavera non consistunt – – sic Alexandro sugiente exercitus ille palpitabat – – Perdiccis, Seleucis atque Antigonis, tamquam Spiritibus etiamnum calidis – – tandem flaccescens exercitus et cadaveris more tabidus, vermium instar ex sese procreavit degeneres Reges – semianimes. Ita sane sublato Cicerone – statim eloquentiae corpus, quod ab illo animabatur, elanguit; et quamvis Oratores aliquot, Persii, Senecae, Plinii, tamquam plena adhuc animae membra, cadentem calentemque Spiritum reciperent – brevi tamen in mera Oratorum cadavera degeneratum est. Prolus. Academ. L. I. 1.
**) Quorum semper fuit prudens sincerumque iudicium, nihil ut possent, nisi incorruptum audire et elegans; sagt Cicero von den Atheniensern. Er setzt hinzu: Eorum religioni cum serviret Orator nullum verbum insolens – nullum odiosum ponere audebat. Cic. Orat.
***) – ut Äschini ne Demosthenes quidem videatur attice dicere – Itaque se purgans iocatur Demosthenes: Negat in eo positas esse fortunas Graeciae, huc an illuc manum porrexerit. Ib.