Beredsamkeit - Funktion und Formen


Wie der ein Maler ist, der jeden sichtbaren Gegenstand durch Zeichnung und Farben so nachzuahmen weiß, dass das Bild eben die Vorstellung erweckt, die er selbst von dem Urbilde hat; so schreibt man dem Beredsamkeit zu, der das, was er denkt und empfindet, durch die gemeine Rede so auszudrücken weiß, dass dadurch auch in anderen dieselben Vorstellungen und Empfindungen erweckt werden. Dieses kann nicht geschehen, wenn er nicht selbst mit großer Klarheit und Lebhaftigkeit denkt und empfindet: demnach besitzt der Redner die Fähigkeit, seine eigenen Vorstellungen zu einem vorzüglichen Grad der Klarheit und Lebhaftigkeit zu erheben; und denn noch diese, dieselben durch die Rede auszudrücken und darin besteht die wahre Anlage zur Beredsamkeit.

Man fordert aber von dem Maler nicht nur die Geschicklichkeit, jeden Gegenstand, so wie er ihn sieht, auszudrücken; er muss ihn so nachahmen können, dass er nach seiner Art am vorteilhaftesten in die Augen fällt und den lebhaftesten Eindruck macht. Eben so fordert man auch von dem Redner, dass er seinen Gegenstand in dem vorteilhaftesten Licht und so zeige, wie er in seiner Art die stärkste Wirkung zum Unterricht oder zur Überzeugung oder zur Rührung, tun wird.

Mithin ist die vollkommene Beredsamkeit die Fertigkeit, jeden Gegenstand, der unter den Ausdruck der Rede fällt, sich so vorzustellen, dass er den stärksten Eindruck mache und denselben dieser Vorstellung gemäß durch die gemeine Rede auszudrücken. Von ihrer Schwester, der Dichtkunst, unterscheidet sie sich darin, dass sie so wohl in ihren Vorstellungen selbst als in dem Ausdruck derselben, weniger sinnlich ist als jene und weniger äußerlichen Schmuk sucht. Von der ihr verwandten Philosophie aber geht sie darin ab, dass sie bei klaren Vorstellungen stehen bleibt, da jene die höchste Deutlichkeit sucht; dass sie so gar das, was die Philosophie deutlich entwickelt hat, wieder sinnlich macht, damit es fühlbar und wirksam werde. Von der bloßen Wohledenheit geht die Beredsamkeit in ihren Absichten ab. Jene sucht bloß zu gefallen oder zu ergötzen; sie sieht ihren Gegenstand bloß von der angenehmen und belustigenden Seite an, mischt allerhand fremde Zierraten zu ihrer besonderen Absicht in dieselbe; da diese allemal den bestimmten Zweck hat, zu unterrichten oder zu überzeugen oder zu rühren. Die Zierraten, die sie braucht, müssen bloß zu Erreichung dieser Absichten dienen. Sie geht tief in die Betrachtung der Dinge hinein, so weit die inneren Sinne einzudringen vermögend sind; da jene sich mehr an dem äußerlichen derselben hält. Ohne durchdringenden Verstand kann man nicht beredt sein; aber die bloße Wohledenheit besitzen auch Menschen, die selten die wahre innere Beschaffenheit der Dinge einsehen. Das Talent, alles, was man sich vorstellt, leicht und angenehm auszudrücken, ist das einzige, was die Wohledenheit erfordert; es ist aber nur ein geringer Teil dessen, was zur Beredsamkeit gehört.

Die Absicht, die die Beredsamkeit allemal hat, zu unterrichten oder zu überzeugen oder zu rühren, sucht sie durch den geraden Weg der Natur zu erreichen. Im Unterricht setzt sie die wahre Beschaffenheit der Sachen in das helleste Licht, ohne Schmuk und ohne Zusatz; hat sie zu überzeugen, so nimmt sie ihre Beweise aus der Natur der Sache, ohne Spitzfindigkeit; sie zerstreuet die Nebel der Unwissenheit und des Vorurteils; benimmt dem Falschen den Schein des Wahren und reißt dem Bösen gerade zu die Larve des Guten mit Gewalt ab. Sie fühlt den Grad der Wichtigkeit ihres Gegenstandes und überlässt sich dem Gefühl des Wahren und Guten; sie gibt keiner Sache mehr Gewicht oder Würde als sie hat. Aus dieser Empfindung entsteht der Grad der Lebhaftigkeit und des Feuers, womit sie an die Gemüter dringt. Die Überzeugung sucht sie nicht zu erzwingen, noch die Rührung durch Übertäubung zu erwecken. Da sie sich dem Gefühl ihrer Vorstellungen ganz überlässt, hat sie selten nötig, den Ausdruck zu suchen; die Worte fließen in vollem Strom sanft oder heftig, lieblich oder ernsthaft, schlecht und einfach oder hoch und erhaben, wie die Natur der Sache es erfordert. Wer ihre Rede hört, vergisst den Ausdruck, sieht und empfindet nichts, als die Sachen; seine Aufmerksamkeit wird niemals auf den Redner, sondern unaufhörlich auf die Sachen geleitet.

Nach der Natur ihres Inhalts und dem Charakter der Zuhörer ist sie bisweilen philosophisch, gelehrt und in ihren Schritten genau abgemessen;*) oder po pular, mehr sinnlich, weniger gelehrt und sucht die Vorstellungskraft und Empfindung zugleich zu rühren;**) nur sophistisch und ausschweifend ist sie niemals.***)

Zu dieser Kunst werden viele und große, so wohl angeborene, als erworbene Gemütsgaben erfordert, die an einem anderen Orte in nähere Betrachtung gezogen worden [s. Redner]. Von den Mitteln aber, wodurch der Redner seinen Vorstellungen die Kraft gibt, wird in dem Artikel, Redekunst, gehandelt.

 

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*) Horum (Philosophorum) Oratio neque nervos neque aculeos oratorios ac sorenses habet. Loquuntur cum doctis, quorum sedare animos malunt quam incitare. Sic de rebus placatis ac minime turbulentis docendi causa non capiendi loquuntur: ut in eo ipso quod delectationem aliquam dicendi aucupentur, plus nonnullis quam necesse sit sacere videantur. Cicero in Orat. So dachte ohne Zweifel Dionysius aus Halicarnassus, der den Phädon des Plato tadelt, dass die Schreibart nicht philosophisch genug sei.

**) Est igitur haec facultas in eo quem volumus eloquentem esse, ut definire rem possit, neque id faciat tam presse et anguste, quam in illis eruditissimis disputationibus fieri solet: sed cum explanatius, tum etiam uberìus et ad commune iudicium popularemque intelligentiam accommodatius – cum res postulabit, genus universum in species certas, ut nulla neque praetermittatur neque redundet, partietur ac dividet. Ib.

***) Omnes eosdem volunt flores, quos Orator adhibt in caussis persequi. Sed hoc differunt, quod cum sit propositum, non perturbare animos sed placare potius, nec tam persuadere quam delectare, et apertius id faciunt quam nos et crebrius; concinnas magis sententias exquirunt, quam probabiles. A re saepe discedunt, intexunt fabulas, verba apertius transferunt, eaque disponunt ut pictores varietatem colorum, paria paribus referunt, adversa contrariis, saepissime similiter extrema definiunt. Ib. An dieser Beschreibung wird man noch jetzt die Beredsamkeit einiger französischen Scribenten erkennen.


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