Beispiel. (Redende Künste) Jede Vorstellung des Allgemeinen durch das Besondere, kann in weitläufigem Sinn ein Beispiel genannt werden; insofern gehören die aesopische Fabel, die Parabel, die Allegorie, zum Beispiel. In der engern Bedeutung aber ist es ein besonderer Fall, in der Absicht angeführt, dass das Allgemeine der Art oder der Gattung, wozu er gehört, mit Vorteil daraus erkennt werde.
Man bedient sich des Beispiels sowohl in der gemeinen und täglichen Rede als in dogmatischen Schriften sehr häufig, um allgemeine Sätze, Regeln, Erklärungen durch dasselbe zu erläutern: so wie die Rechenmeister, wenn sie eine Regel geben, sogleich einen besonderen Fall anführen, an dem sie dieselbe Stück für Stück erklären. Die Redner und Dichter haben selten nötig, Beispiele in dieser Absicht anzuführen, weil sie selten solche allgemeine und abstrakte Dinge vorbringen, die ohne Beispiele nicht deutlich genug gefasst würden. Dennoch brauchen sie das Beispiel sehr häufig, um dasjenige, was an sich selbst schon verständlich genug ist, mit ästhetischer Kraft zu sagen und recht sinnlich zu machen.
Die Anmerkung, dass jeder des anderen Zustand für besser hält als den seinigen, ist an sich schon verständlich genug; dennoch drückt Horaz sie durch Beispiele aus:
O! fortunati mercatores, gravis annis
Miles ait, multo jam fractus membra labore.
Contra Mercator navim jactantibus austris,
Militia est potior. –– ––
Agricolam laudat juris legumque peritus
–– ––
Ille –– ––
Solos felices viventes clamat in urbe. [Serm. I. 1]
Die Wirkung des ästhetischen Beispiels ist verschieden. Es kann dienen, die allgemeine Wahrheit, zu deren Behuf es angeführt worden ist, auf eine ästhetische Art zu beweisen, in dem es uns Fälle zu Gemüte führt, die wir erlebt haben, die uns also die Wahrheit fühlbar machen. Von dieser Art ist das angeführte. Denn wer einige Erfahrung hat, muss dergleichen Reden wirklich gehört haben. Diese Art, Wahrheiten, die jeder aus besonderen Fällen unmittelbar abnehmen kann, durch Anführung solcher Fälle als Beispiele, einzuprägen, ist durch die ganze Beredsamkeit und Dichtkunst von sehr großem Nutzen. Im Grunde ist es eine Beweisart durch Induktion [s. Beweisarten], und die beste Art zu überzeugen. Dergleichen Beispiele kann man beweisende Beispiele nennen; allgemein werden viele nach einander angeführt. Man kann sie hinter dem Satz, dessen Beweis sie sind, anführen oder demselben vorhergehen lassen. Die Geschicklich keit, solche Beispiele gut zu wählen und (nach Beschaffenheit der Umstände) kurz oder naiv oder nachdrücklich oder malerisch vorzutragen, ist eines der wichtigsten Talente der Moralisten.
Bisweilen dienen solche Beispiele, wenn mehrere hinter einander kommen, bloß dazu, dass der Leser Zeit habe, sich die allgemeine Wahrheit, an welcher er ohnedem nicht zweifeln würde, durch die Wiederholung derselben, desto sicherer einzuprägen, damit sie unvergeßlich bleibe. Daher werden bisweilen die gemeinesten und bekanntesten Wahrheiten von mehreren Beispielen begleitet, nur dass der Leser sich dabei aufhalte. Was ist bekannter als dass der, der einmal gestorben ist, für immer todt ist? Aber Horaz führt Beispiele davon an:
Cum semel occideris & de te splendida Minos
Fecerit arbitria
Non te Torquate genus, non te facundia, non te
Restituet pietas:
Infernis neque enim tenebris Diana pudicum
Liberat Hippolytum;
Nec Lethæa valet Theseus abrumpere charo
Vincula Pirithoo. [Od. Lib. IV. 7]
Man könnte diese Beispiele verweilende Beispiele nennen; weil sie durch die Verweilung bei einer bekannten Wahrheit sie tiefer einprägen. Man trift nir gend mehr Beispiele dieser Art an als beim Ovidius, dem gleich bei jedem allgemeinen Satz hundert besondere Fälle ins Gedächtnis kommen.
Bisweilen dient das Beispiel, der Wahrheit, die es enthält, einen Schmuk zu geben, wodurch sie reizender wird. So braucht Horaz, anstatt der vorher angeführten lehrenden Beispiele, für dieselbe Wahrheit ein andermal naive malerische Beispiele:
Optat ephippia bos piger; optat arare caballus.
Von dieser Art sind auch diese Beispiele des La Fontaine von der Wahrheit, dass jeder Mensch sucht sich über seinen Stand zu erheben:
Tout bourgeois veut batir comme les grands Seigneurs,
Tout petit prince a des Ambassadeurs,
Tout Marquis veut avoir des pages.
Diese Art des Beispiels, das der Vorstellung eine besonders kräftige Gestalt oder Farbe gibt, um sie dem Gemüte desto lebhafter einzuprägen, hat wieder gar vielerlei Formen, die sich nicht alle entwickeln lassen. So hat folgende Art des Beispiels eine ungemeine Kraft. Horaz will die allgemeine Lehre anbringen, dass Üppigkeit und großer Aufwand sich nicht einmal durch großen Reichtum entschuldigen lassen. Anstatt bloß allgemein zu sagen: das Geld könnte besser angewendet werden, sagt er dieses in Beispielen, die er noch dazu in dringenden Fragen vorträgt:
Cur eget indignus quisquam, te divite? quare
Templa ruunt antiqua Deum? Cur, improbe, caræ
Non aliquid patriæ tanto emetiris acervo? [Sermon. II. 2. 103]
Die Beispiele können nach der besonderen Absicht, die man dabei hat, allgemeiner sein oder aus ganz einzeln Fällen genommen werden; sie können erdichtet oder wahr sein. Darüber lassen sich keine Regeln geben; Redner und Dichter müssen fühlen, was sich zu ihrer Absicht am besten schickt. Eine besondere Kraft haben die Fälle, da man erst allgemeine Beispiele anführt und dieselbe denn noch mit einem einzelnen, dem Zuhörer gegenwärtig vor Augen liegenden Fall bestätiget. So kann ein Redner, der von Unglücksfällen gesprochen hat und denn sich selbst noch als ein besonders Beispiel anführt, gewiss sein, Mitleiden zu erwecken. Man erwäge, wie rührend folgendes ist: Cum sæpe antea, Iudices, ex aliorum miseriis & ex meis curis laboribusque quotidianis, fortunatos eos homines judicarim, qui remoti à studiis ambitionis otium ac tranquillitatem vitæ secuti sunt, tum vero in his L. Murænæ tantis tamque inprovisis periculis, ita sum animo affectus, ut non queam satis, neque communem omnium nostrum conditionem, neque hujus eventum fortunamque miserari: qui primum, dum ex honoribus continuis familiæ majorumque suorum, unum ascendere gradum dignitatis coactus est, venit in periculum, ne & ea quæ relicta, & hæc quæ ab ipso parata sunt amittat. Deinde propter studium novæ laudis, etiam in veteris discrimen adducitur [Cic. Or. pro. Muræna c. 17].
Je näher vor unseren Augen die Fälle liegen, die als Beispiele angeführt werden, desto größer ist ihre Kraft, vornehmlich aber ist dieses von rührenden und pathetischen Beispielen zu verstehen. So wie uns ein Unglücksfall, der in einem entfernten Lande sich zugetragen hat, weniger rührt als der in unserem Vaterlande geschehen und der am allermeisten, der sich in unserer Nachbarschaft und vor unseren Augen ereignet; so ist es auch mit den Beispielen.