Bildhauerkunst - Wesen und Rang der Bildhauerkunst


Der wichtigste aller sichtbaren Gegenstände ist der Mensch. Nicht wegen der Zierlichkeit seiner Form, wenn diese gleich das schönste aller sichtbaren Dinge wäre; sondern deswegen, weil diese Form ein Bild der Seele ist; weil sie Gedanken und Empfindungen, Charakter und Neigungen in körperlicher Gestalt darstellt. Der Leib des Menschen ist nichts anders als seine sichtbar gemachte Seele. Also bildet diese Kunst Seelen, mit allem, was sie interessantes haben, in Marmor und Erz. Die Seele selbst aber scheint ein Bild des höchsten Wesens, des erhabensten, vollkommensten und besten Gegenstandes zu sein. Diese Kunst kann demnach das höchste, was der Mensch zu denken und zu empfinden im Stand ist, dem Gesichte darstellen. Man sagt von dem Jupiter des Phidias, es habe ihn niemand ansehen können, ohne von der Majestät des göttlichen Wesens gerührt zu werden. Wer also die Kunst besitzt, wie Phidias sie besessen hat, der kann alles, was groß und edel ist, abbilden und dadurch in jedem fühlbaren Herzen Rührungen von der höchsten Wichtigkeit erwecken.

Dass die Bildhauerkunst nicht zu dieser Absicht ist erfunden worden, dass sie selten zu einem höheren Zweck als zur Ergötzung des Auges oder zur Pracht angewendet wird, kann ihre höhere Bestimmung nicht aufheben, noch vereitlen. Da überhaupt die Absicht dieses Werks nicht ist, die schönen Künste in der Gestalt zu zeigen, die sie wirklich haben, sondern diejenige merkbar zu machen, die sie haben können, so sehen wir hier mehr auf das Mögliche als auf das Wirkliche. Warum sollten wir anstehen, einer Sache dasjenige zuzueignen, was wirklich in ihrer Natur liegt? Warum sollten wir bei einem geringen Gebrauch stehen bleiben, so lange ein wichtigerer möglich ist? Dieser höhere Gebrauch ist hier um so viel mehr zu suchen, da die Bildhauerkunst größere Anstalten und mehr Aufwand als andere Künste erfordert. Ihre Werke sind kostbar und höchst mühsam; also muss auch der Zweck derselben groß sein.

Sie soll also nicht eine flüchtige Überraschung der Einbildungskraft, nicht eine bloße Ergetzlichkeit des Auges, nicht die Bewunderung der Geschicklichkeit und des Reichtums, sondern etwas größeres zum Endzweck haben. Sie sucht tiefe Eindrücke des Guten, des Erhabenen und des Grossen zu machen, die nach der Betrachtung des Bildes auf immer in der Seele übrig bleiben. Erst zieht sie das Auge durch die harmonische Schönheit der Formen auf sich; denn reizt sie dasselbe durch den Ausdruck zu ernsthafterer Betrachtung. Es sieht nun Gedanken, Empfindungen, Größe des Geistes und Kräfte, daraus jede Tugend entsteht, angedeutet, dringt durch das äußerliche in das innere und stellt sich ein denkendes und empfindendes Wesen vor, das den Marmor belebt. Denn bestrebet sich der Geist und das Herz, die Vollkommenheit, deren Begriff durch das Bild erweckt worden ist, ganz zu fassen, seine eigene Gedanken und Empfindungen danach zu stimmen; die ganze Seele strebt nun nach einem höheren Grade der Vollkommenheit. Dieses ist ohne Zweifel eine Wirkung, die von vollkommenen Werken der Bildhauerkunst zu erwarten ist [Statue]. Also weiß ein Phidias Seelen erhöhende Kräfte in den Marmor zu legen; ist vermögend, jede Vollkommenheit des Geistes, jede Tugend und jede Empfindung des Herzens, den Sinne fühlbar zu machen. Was kann aber zur Bestrebung nach innerlicher Vollkommenheit nützlicher sein, als wenn wir dieselbe fühlen? Unter allen sichtbaren Dingen ist der Mensch ohne allen Zweifel der wichtigste Gegenstand des Auges; in dem Menschen aber können alle menschliche Tugenden sichtbar werden – vielleicht auch übermenschliche; wenn nur die Muse dem Künstler ein höheres Ideal in seine Phantasie gelegt hat. Was also der Moralist mit ungemeiner Mühe dem Verstand vorstellt, große Muster jeder Vollkommenheit, das gibt der bildende Künstler, wenn ihm nur die Geheimnisse seiner Kunst geoffenbaret sind, dem Auge zu sehen. Dieses aber ist das Höchste der Kunst.

Auch in ihren geringern Werken, selbst da, wo sie bloß zur Verzierung der Städte, der Gärten, der Gebäude und der Wohnungen arbeitet, ist sie noch eine nützliche Kunst, wenn sie nur von dem guten Geschmack geleitet wird. Das Schöne selbst in leblosen Formen, das Schickliche, selbst in gleichgültigen Dingen, das Ordentliche, das Angenehme und andere Eigenschaften dieser Art, haben allemal einen vorteilhaften Einfluss auf die Gemüter. S. Baukunst. Verzogene Gestalten aber, von denen das Auge nichts begreift; Formen, die die Natur verkennt; elende Nachahmungen natürlicher Dinge; Vermischung widerstreitender Naturen, sind Mißgeburten der Kunst und Gegenstände, an die sich das Auge nicht ohne schädliche Wirkung auf die Denkungsart, gewöhnt.

Die Bildhauerkunst kann also ihren Rang unter anderen schönen Künsten, mit völligem Recht behaupten. Mittelmäßig scheint sie von überaus geringem Nutzen zu sein; aber in ihrer Vollkommenheit darf sie keiner anderen nachstehen. Wirkt sie gleich nicht auf so mancherlei Art auf die Gemüter als die Dichtkunst, so ist ihre Wirkung desto nachdrücklicher.


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