Baukunst - Regeln der Baukunst


Der Gebrauch, wozu jedes Gebäude bestimmt ist, gibt dem Baumeister fast allemal die Größe desselben und die Menge der Zimmer oder inwendigen Hauptteile an, wenn er nur, von einem gesunden Urteil geleitet, fühlt, was sich in jedem Fall für die Personen, Zeiten und Umstände schickt. Sein Werk ist es, die erfundenen Teile wohl zusammen zu setzen, ihre besten Verhältnisse zu bestimmen, dem ganzen Gebäude eine bequeme und schöne Form zu geben, dessen äußerliches Ansehen so wohl als alles inwendige, nach der besonderen Art des Gebäudes, angenehm und schön zu machen. Bei dieser Arbeit muss er durch gewisse Grundsätze geleitet werden, die sein Urteil über das schöne und angenehme sicher machen; er muss gewisse Erfahrungen haben, die ihm da, wo seine Grundsätze nicht bestimmt genug sind, das Schöne hinlänglich zu erkennen geben. Hieraus entsteht die Theorie der Baukunst. Man bemerke zuvorderst, dass es gewisse Regeln gibt, welche bei jedem Gebäude überhaupt, und bei jedem Teile desselben müssen beobachtet werden, wenn man nicht anstößige und beleidigende Fehler begehen will. Diese Regeln wollen wir die notwendigen Regeln nennen. Andre aber sind von der Beschaffenheit, dass ihre gänzliche Verabsäumung zwar keinen Fehler veranlassen, aber einen gänzlichen Mangel der Schönheit hervor bringen würde. Diese nennen wir zufällige Regeln. Die Theorie der Baukunst muss demnach zuerst diejenigen Regeln angeben, wodurch ein Gebäude so wohl im Ganzen als in seinen Teilen richtig, ordentlich, natürlich und ohne Fehler wird. Diese sind größtenteils in den folgenden Artikeln begriffen: Richtigkeit, Regelmäßigkeit, Zusammenhang, Ordnung, Gleichförmigkeit, Eurythmie. Denn die Eigenschaften, welche durch diese Wörter bezeichnet werden, sind alle jedem Gebäude so wesentlich, dass man niemals dagegen anstoßen kann, ohne ein aufmerksames Auge zu beleidigen.

Wenn aber alles Anstößige in einem Gebäude vermieden worden, so ist es deshalb noch nicht schön. Denn dazu gehört nicht nur, dass das Auge nicht beleidiget werde, sondern dass das Gebäude angenehm in die Augen falle. Dieses erfordert zuerst eine genaue Verbindung des Mannigfaltigen in Eines, (s. Schön.) welches durch die Verschiedenheit der Teile und durch mannigfaltige und gute Verhältnisse derselben hervor gebracht wird. Die Theorie der Baukunst muss demnach zeigen, wie das Ganze des Gebäudes durch mancherlei verschiedene Teile, die wohl übereinstimmen und schöne Verhältnisse gegen einander haben, zusammengesetzt werde.

Diejenigen, welche über die Baukunst geschrieben haben, sind nicht genau genug gewesen, den Unterschied dieser beiderlei Arten der Regeln zu bemerken und haben daher der Baukunst zu enge Schranken gesetzt.

Die meisten Baumeister sprechen von den Verhältnissen der Teile in den Säulenordnungen, und von den Vorzierungen derselben auf eine solche Art, die manchen vermuten lässt, dass alle Regeln darüber schlechterdings notwendig und bestimmt sein. Sie halten die Abweichungen von diesen Regeln für wesentliche Fehler, da sie doch oft ganz unschädlich oder wohl gar nützlich sind. Es wäre nach der Meinung vieler Baumeister ein schweres Vergehen, wenn man die Zierraten, welche nach der griechischen Baukunst dem dorischen Fries zukommen, dem korinthischen oder ionischen geben wollte. Viele gehen so weit, dass sie auch in den geringsten Kleinigkeiten nichts verändert wissen wollen. Vitruvius befiehlt z. B. man soll in dem dorischen Fries die Breite der Dreischlitze zwei Drittel der Höhe und die Metopen gerade so breit als hoch machen. Brächte ein Baumeister alle mögliche Schönheit in ein Gebäude, veränderte aber diese vitruvische Verhältnisse, so würde mancher ihn eines unverzeihlichen Fehlers beschuldigen.

Dies ist ein Vorurteil, das den Geschmack zu sehr einschränkt. Nur die Regel ist gänzlich bestimmt und unveränderlich, deren Verabsäumung einen Fehler hervor bringt, der der natürlichen, allgemeinen Art aller Menschen zu denken und zu empfinden zuwider ist und der das Auge notwendig beleidiget. Auf diese Regeln muss man schlechterdings halten, denn sie sind unverletzlich. Da hingegen in der Natur kein Grund vorhanden ist, warum in einem Fries Dreischlitze, in einem anderen aber andere Zierraten sein sollen; warum das corinthische Kapital drei und nicht zwei Reihen Blätter haben soll; so muss man diese zufällige Schönheiten nicht in notwendige Regeln fassen. Gleichwohl vergibt man allgemein einem Baumeister eher einen abgebrochenen Giebel, der ein Fehler wider die Natur ist als einen Dreischlitz, der außer dem vitruvischen Verhältnis ist; da doch dieses oft eine Schönheit und kein Fehler ist.

Die notwendigen Regeln sind in der Natur unserer Vorstellungen gegründet; die zufälligen sind die Frucht des Augenmaßes und eines Gefühls, dessen eigentliche Schranken nicht zu bestimmen sind. Eine lange Erfahrung lehrt, dass die griechischen Baumeister ein feines Auge gehabt haben, dass ihre Verhältnisse gefallen, dass ihre Verzierungen angenehm sind. Aber niemand ist im Stand, zu beweisen, dass sie die einzigen guten sind. Von verschiedenen Verzierungen wissen wir, dass sie ganz zufällig sind und dass man oft angenehmere an ihre Stelle setzen könne. Sich gänzlich an die Regeln der Alten binden wollen, heißt eben so viel als urteilen, dass keine weibliche Figur schön sein könne, die nicht in allen Stücken der medicischen Venus gleicht und keine männliche, die nicht alle Verhältnisse des Apollo in Belvedere hat.

Wir raten demnach denen, welche über die Theorie der Baukunst schreiben, dass sie zuvorderst die notwendigen Regeln ausführlich und wohl aus einander setzen und deren Beobachtung genau einschärfen; weil es niemals erlaubt ist davon abzugehen. Die zufälligen Regeln können sie aus den besten Mustern des Altertums, aus dem Vitruvius und den besten neueren Baumeistern nehmen, ohne deren genauste Beobachtung als schlechterdings notwendig anzupreisen. Man muss sie nur als ungefähr richtige Grenzen ansehen, welche man niemals weit überschreiten kann, ohne in gefährliche Abwege zu geraten. Für schlechte Baumeister, die selbst kein Augenmaß und wenig Geschmack haben, ist es sehr gut, wenn sie sich genau an diese Regeln binden. Die aber ein feines Auge und einen sichern Geschmack haben, können sie sehr oft ohne Gefahr verlassen.

In allen Artikeln, wo wir von zufälligen Regeln zu sprechen haben, werden wir uns hauptsächlich an die halten, welche Goldmann angegeben hat. Man wird schwerlich einen Baumeister finden, der seine Kunst mit einem so scharfen Nachdenken bearbeitet hat als dieser. Die allgemeinen, so wohl notwendigen, als zufälligen Regeln müssen auf folgende Hauptstücke besonders angewendet werden. 1) Auf die Anordnung oder Figur und Form der Gebäude überhaupt. 2) Auf die innere Einteilung. 3) Auf die Verzierung besonderer Teile. Wenn also die Theorie in ihrem ganzen Umfange vorgetragen wird, so enthält sie folgen de Hauptstücke. 1) Allgemeine Untersuchungen über die Vollkommenheit und Schönheit eines Gebäudes. 2) Regeln über die Anordnung. 3) Regeln über die Einteilung. 4) Betrachtungen und Regeln über die Schönheit der Außenseiten (Façades.) 5) Betrachtungen und Beschreibungen der verschiedenen Säulenordnungen. 6) Von den kleinen Verzierungen der Glieder. 7) Von den inwendigen Verzierungen. Das mechanische der Baukunst übergehen wir hier.


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