Bild - Eigenschaften und Quellen der Bilder
Die Haupteigenschaften eines Bildes sind diese: Es muss von bekannten Dingen hergenommen werden, die man sich leicht und mit großer Klarheit vorstellt; es muss eine genaue Ähnlichkeit mit dem Gegenbild haben; diese Ähnlichkeit muss schnell bemerkt werden können, so bald man das ganze Bild gefasst hat; die Gattung der Dinge, woraus es genommen ist, muss nichts an sich haben, das dem Charakter des Gegenbildes entgegen sei. Man sieht ohne Mühe die Notwendigkeit dieser Eigenschaften der Bilder ein.
Wegen der letzten Eigenschaft muss man am sorgfältigsten sein, weil der Mangel derselben sehr widrige Wirkung tun kann. Ernsthafte Vorstellungen würden durch komische Bilder, hohe Dinge durch niedrige, ganz verdorben werden. Nur bei scherzhaftem Vortrag ist es nicht nur erlaubt, sondern sehr vorteilhaft, diese Regel zu überschreiten, indem das Widersprechende oder Widerartige zwischen dem Bild und dem Gegenbild, eine Hauptquelle des Scherzhaften ist, wie an seinem Orte gezeigt wird.
Die Quellen, woraus die Bilder geschöpft werden, sind mannigfaltig; die leblose Natur; die Kunstwerke; die Sitten der Tiere und der Menschen; die Geschichte; die Mythologie und endlich die Belebung lebloser Dinge: das Mittel aber zur Erfindung ist eine weitläufige Kenntnis dieser Quellen mit einem scharfen Beobachtungsgeist und lebhaften Witz verbunden. Wer in Erfindung der Bilder glücklich sein will, der muss außer sich mit einem verweilenden, alles bemerkenden und durchforschenden Auge Natur und Sitten unaufhörlich beobachten; in sich selbst aber jeden bis zur Klarheit hervorkommenden Begriff, jede aufkeimende Empfindung bemerken und sich den Eindrücken derselben eine Zeitlang überlassen. Denn dadurch bemerkt man die Ähnlichkeit der Dinge. Je größer der Beobachtungsgeist des Sichtbaren und Unsichtbaren ist, desto reicher wird die Einbildungskraft an Bildern und Gemälden, die jede Vorstellung des Geistes und jede Regung des Herzens zu sichtbaren und fühlbaren Gegenständen machen. Denn die sichtbare Welt ist durchaus ein Bild der unsichtbaren, in welcher nichts liegt und nichts vorgeht, das nicht durch etwas materielles abgebildet würde. Es ist das eigentliche Werk der redenden Künste, uns die unsichtbare Welt durch die sichtbare bekannter zu machen. Also ist die Erfindung vollkommener Bilder beinahe das vornehmste Studium des Dichters.
Die unabläßige Beobachtung der Natur und der Sitten, zu welcher Bodmer viel nützliche Lehren an die Hand gibt,*) ist der eine Weg zu Erfindung der Bilder; die Dichtungskraft, die abgezogenen Begriffen einen Körper gibt, die leblose Dinge in lebendige Wesen verwandelt, ist ein anderer Weg. So macht Horaz die Sorge und fast alle Leidenschaften zu handelnden körperlichen Wesen, die uns überall verfolgen.*) Die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft ist die einzige Quelle dieser Bilder. (S. Belebung; Dichtungskraft.)
Wer einige natürliche Anlage zur Erfindung und Erschaffung solcher Bilder hat, kann sie durch fleißiges Lesen der Dichter und Redner, denen diese Gabe einigermaßen eigen war, noch sehr verstärken. So wie man bei vergnügten Menschen vergnügt und bei melancholischen schwermütig wird, so wird man auch bei witzigen witzig, wenn man nur irgend einen Funken Witz hat. Man wird daher allemal sehen, dass diejenigen, die viel mit witzigen Menschen umgegangen sind, über das Maß ihrer natürlichen Anlage witzig sind. Wem der Umgang fehlt, der muss ihn durch das Lesen ersetzen.
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*) Kritische Betrachtungen über die poetischen Gemälde im 1sten und 3ten Kapitel
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Cura; nec turmas equitum relinquit,
Ocior cervis, agente nimbo,
Ocior Euro.
–– Timor et minæ
Saudunt eodem quo dominus; neque
Decedit ærata triremi; et
Post equitem sedet atra cura