[Baudelaire: Allegorie, Sainte-Beuve ...]
Baudelaire war genötigt, die Würde des Dichters in einer Gesellschaft zu beanspruchen, die keinerlei Würde mehr zu vergeben hatte. Daher die bouffonnerie seines Auftretens. [J 62, 1]
Die Figur Baudelaires ist in seinen Ruhm eingegangen. Seine Geschichte ist für die kleinbürgerliche Masse der Leser eine image d’Epinal, der bebilderte »Lebenslauf eines Wollüstlings«. Dieses Bild hat zu Baudelaires Ruhm viel beigetragen – sowenig alle, die es verbreiteten zu seinen Freunden gehören mochten. Über dieses Bild legt sich ein anderes, das weniger in die Breite aber nachhaltiger in die Zeit gewirkt hat: auf ihm erscheint Baudelaire als Träger einer aesthetischen Passion. [J 62, 2]
Der Aesthetiker ist bei Kierkegaard zur Passion vorbestimmt, vgl. »der Unglücklichste«. [J 62, 3]
Das Grab als die geheime Kammer, in der Eros und Sexus ihren alten Streit vergleichen. [J 62, 4]
Die Sterne stellen bei Baudelaire das Vexierbild der Ware dar. Sie sind das Immerwiedergleiche in großen Massen. [J 62, 5]
Baudelaire hatte nicht den humanitären Idealismus eines Victor Hugo oder Lamartine. Ihm stand die Gefühlsseligkeit eines Musset nicht zu Gebote. Er hat nicht, wie Gautier, Gefallen an seiner Zeit gefunden noch sich wie Leconte de Lisle um sie betrügen können. Es war ihm nicht wie Verlaine gegeben, sich in die Devotion zu flüchten, noch, wie Rimbaud, die Jugendkraft des lyrischen Elans durch den Verrat am Mannesalter zu steigern. So reich Baudelaire an Auskünften in seinem Handwerk ist, so unbeholfen ist er seiner Zeit gegenüber in Ausflüchten. Und selbst die große tragische Partie, die er für ihre Bühne gedichtet hatte – d〈ie〉 Rolle des »Modernen« – war zuguterletzt nur mit ihm selber zu besetzen. Das alles wußte Baudelaire zweifelsohne. Die Exzentrizitäten, in denen er sich gefiel, waren die des Mimen, der vor einem Publikum spielen muß, das dem Vorgang auf der Szene nicht folgen kann, der das weiß und in seinem Spiel diesem Wissen zu seinem Recht verhilft. [J 62, 6]
In der psychischen Ökonomie erscheint der Massenartikel als Zwangsvorstellung. [Ein natürlicher Bedarf für ihn ist nicht da.] Der Neurotiker ist genötigt, sie mit Gewalt in den natürlichen Zirkulationsprozeß zwischen die Vorstellungen hineinzupumpen. [J 62 a, 1]
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft macht das historische Geschehen selbst zum Massenartikel. Diese Konzeption trägt aber auch noch in anderer Hinsicht – man könnte sagen: auf ihrer Rückseite – die Spur der ökonomischen Umstände, denen sie ihre plötzliche Aktualität verdankt. Diese meldete sich in dem Augenblick an, da die Sicherheit der Lebensverhältnisse durch die beschleunigte Abfolge der Krisen sich sehr verminderte. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft hatte seinen Glanz davon, daß mit einer Wiederkunft von Verhältnissen in kleineren Fristen als sie die Ewigkeit zur Verfügung stellte, nicht unter allen Umständen mehr zu rechnen war. Die alltäglichen Konstellationen begannen ganz allmählich, das weniger zu werden. Ihre Wiederkunft wurde ganz allmählich ein wenig seltner und es konnte sich damit die dumpfe Ahnung regen, man werde sich mit kosmischen Konstellationen begnügen müssen. Kurz, die Gewohnheit schickte sich an, einiger ihrer Rechte sich zu begeben. Nietzsche sagt: »Ich liebe die kurzen Gewohnheiten« und schon Baudelaire war sein Lebtag unfähig gewesen, feste Gewohnheiten zu entwickeln. Gewohnheiten sind die Armatur der Erfahrung, Erlebnisse zersetzen sie. [J 62 a, 2]
Ein Abschnitt der Diapsalmata ad se ipsum beschäftigt sich mit der Langenweile. Er schließt mit dem Satz: »Meine Seele ist wie das Tote Meer, das kein Vogel überfliegen kann; mitten im Flug zieht es ihn nieder in Untergang und Verderben.« Soeren Kierkegaard: Entweder-Oder Jena 1911 I p 33 vgl.:»Je suis un cimetière abhorré de la lune« Spleen II [J 62 a, 3]
Die Melancholie〈,〉 der Hochmut und die Bilder. »Mein Kummer ist meine Ritterburg; sie liegt wie ein Adlerhorst auf der Spitze eines Berges und ragt hoch in die Wolken. Niemand kann sie stürmen. Von diesem Wohnsitz fliege ich hinunter in die Wirklichkeit und ergreife meine Beute. Aber ich halte mich unten nicht auf; ich trage sie heim auf mein Schloß. Was ich erbeute, sind Bilder.« Soeren Kierkegaard: Entweder-Oder Jena 1911 I p 38 (Diapsalmata ad se ipsum) [J 62 a, 4]
Zum Gebrauch des Terminus aesthetisch bei Kierkegaard. Bei Anstellung eines Kindermädchens berücksichtigt man nach ihm »auch einen ästhetischen Gesichtspunkt: ob sie die Kinder zu unterhalten versteht«. Soeren Kierkegaard: Entweder-Oder Jena 1911 I p 255 (Die Wechsel-Wirtschaft) [J 63, 1]
Die Reise Blanquis: »Man langweilt sich auf dem Lande, man reist in die Residenz; man langweilt sich in seinem Vaterland, man reist ins Ausland; man ist europamüde, man reist nach Amerika usf., man lebt in der schwärmerischen Hoffnung auf eine unendliche Reise von Stern zu Stern.« Soeren Kierkegaard: Entweder-Oder Jena 1911 I p 260 (Die Wechsel-Wirtschaft) [J 63, 2]
Die Langeweile »Ihre Unendlichkeit ist die des Schwindels, den der Blick in die unendliche Tiefe eines Abgrunds hervorruft.« Kierkegaard: Entweder-Oder I p 260 (Die Wechsel-Wirtschaft) [J 63, 3]
Zur Passion des Aesthetikers bei Kierkegaard und ihrer Begründung auf der Erinnerung: »Die Erinnerung ist vorzugsweise das eigentliche Element des Unglücklichen … Denke ich mir … einen Menschen, der selbst keine Kindheit gehabt hat, … der nun aber … all das Schöne entdeckt, das in der Kindheit liegt und nun in der Erinnerung seine eigene Kinderzeit sucht und beständig in jene Leere der Vergangenheit hineinstarrt: der ist ein recht passendes Exempel des wahrhaft Unglücklichen.« Soeren Kierkegaard: Entweder-Oder Jena 1911 I p 203/04 (Der Unglücklichste) [J 63, 4]
Baudelaires Vorhaben, in einem Buche der Menschheit seinen Widerwillen gegen sie ins Gesicht zu speien erinnert an die Stelle an der Kierkegaard eingesteht, das Entweder-Oder als »eine Interjektion« zu brauchen, die er »der Menschheit zurufe, wie man dem Juden Hep-hep nachruft«. Kierkegaard: Entweder-Oder Jena 1913 II p 133 (Das Gleichgewicht des Ästhetischen und des Ethischen in der Ausarbeitung der Persönlichkeit) [J 63, 5]
Zum sectionnement du temps. »Dies ist … der adäquateste Ausdruck für die ästhetische Existenz: sie ist im Moment. Daher die ungeheuren Oszillationen, denen das ästhetische Leben ausgesetzt ist.« Kierkegaard: Entweder-Oder II p 196 (Das Gleichgewicht des Ästhetischen und des Ethischen in der Ausarbeitung der Persönlichkeit) [J 63, 6]
Zur Impotenz. Um die Jahrhundertmitte hört die Bürgerklasse auf, sich mit der Zukunft der von ihr entbundenen Produktivkräfte zu beschäftigen. (Es entstehen nun die Pendants der großen Utopien eines Morus und Campanella, die den Aufstieg dieser Klasse begrüßten und in der die Identität ihrer Interessen mit den Forderungen der Freiheit und der Gerechtigkeit zur Geltung kam – nämlich die Utopien eines Bellamy oder Moilin, in denen die Hauptsache die Retouchen an der Konsumption und an ihren Reizen sind.) Die bourgeoisie hätte, um sich mit der Zukunft der von ihr ins Werk gesetzten Produktivkräfte ferner beschäftigen zu können, zuerst auf die Vorstellung von der Rente verzichten müssen. Daß die »Gemütlichkeit« als der um die Jahrhundertmitte für den Bourgeois im Genuß so typische Habitus mit diesem Erschlaffen ihrer Phantasie eng zusammenhängt; daß sie eins mit dem Behagen ist, »niemals erfahren zu müssen, wie sich die Produktivkräfte unter seinen Händen entwickeln mußten« – das läßt kaum einen Zweifel zu. Der Traum, Kinder zu bekommen ist ein ärmlicher Stimulans wo ihn nicht der von einer neuen Natur der Dinge durchdringt, in der diese Kinder einmal leben oder für die sie einst kämpfen sollen. Selbst der Traum von der »besseren Menschheit« wo die Kinder es einmal »besser haben« ist nur spitzwegsches Spintisieren, wo er nicht im Grunde identisch mit dem von der besseren Natur ist, in der sie leben sollen, (Darin liegt das unverjährbare Recht der Fourierschen Utopie, das Marx erkannt [und Rußland durchzusetzen begonnen] hatte.) Dieser ist die lebendige Quelle der biologischen Kraft der Menschheit; jener ist nichts als der trübe Teich, aus dem der Klapperstorch die Kinder zum Vorschein bringt. Baudelaires desperate These von den Kindern als den der Erbsünde nächsten Geschöpfen ist zur letztere〈n〉 kein unebenes Komplement. [J 63 a, 1]
Von den Totentänzen: »Les artistes modernes négligent beaucoup trop ces magnifiques allégories du moyen âge.« Ch B: Œuvres II p 257 (Salon de 1859) [J 63 a, 2]
Die Impotenz ist die Grundlage des Passionsweges der männlichen Sexualität. Aus dieser Impotenz geht ebensowohl Baudelaires Bindung an das seraphische Frauenbild wie sein Fetischismus hervor. Dabei ist die Kellersche »Dichtersünde«, »süße Frauenbilder zu erfinden, | wie die bittre Erde sie nicht hegt« sicherlich nicht die seine. Kellers Frauen haben die Süßigkeit der Chimären. Baudelaire bleibt in seinen Frauengestalten präzis, damit französisch, weil das fetischistische und das seraphische Element bei ihm nicht, wie stets bei Keller, zusammentreten. [J 64, 1]
»Einen idealistischen absoluten Fortschrittsglauben haben Marx und Engels natürlich ironisiert. (Engels rühmt an Fourier, daß er auch den künftigen Untergang der Menschheit in die Geschichtsbetrachtung eingeführt habe, wie Kant den künftigen Untergang des Sonnensystems.) In diesem Zusammenhang macht sich Engels auch über das ›Gerede von der unbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit‹ lustig«. Brief von 〈Hermann〉 Duncker an Grete Steffin 18 Juli 1938 [J 64, 2]
Der mythische Begriff der Aufgabe des Dichters ist durch den profanen des Werkzeugs zu definieren. – Der große Dichter steht seinem Werke niemals 〈als〉 reine〈r〉 Produzent gegenüber. Er 〈ist〉 zugleich auch sein Konsument. Freilich konsumiert er es, im Gegensatz zum Publikum, nicht als Reiz sondern als Werkzeug. Dieser Werkzeugcharakter stellt einen Gebrauchswert dar, der schwer in den Tauschwert eingeht. [J 64, 3]
Zum Crépuscule du soir: die Großstadt kennt keine eigentliche Abenddämmerung. Jedenfalls bringt die künstliche Beleuchtung diese um ihren Übergang in die Nacht. Der gleiche Umstand bewirkt, daß die Sterne am Himmel der Großstadt zurücktreten; am allerwenigsten wird ihr Aufgang bemerkt. Kants Umschreibung des Erhabenen durch »das moralische Gesetz in mir und den gestirnten Himmel über mir« hätte so von einem Großstädter nicht konzipiert werden können. [J 64, 4]
Baudelaires spleen ist das Leiden am Verfall der Aura. »Le Printemps adorable a perdu son odeur.« [J 64, 5]
Die Massenproduktion ist die ökonomische, der Klassenkampf die gesellschaftliche Hauptursache für den Verfall der Aura. [J 64 a, 1]
De Maistre über den sauvage; eine gegen Rousseau gerichtete Reflexion: »On ne saurait fixer un instant ses regards sur le sauvage sans lire l’anathème écrit … jusque sur la forme extérieure de son corps … Une main redoutable appesantie sur ces races dévouées efface en elles les deux caractères distinctifs de notre grandeur, la prévoyance et la perfectibilité. Le sauvage coupe l’arbre pour cueillir le fruit; il dételle le bœuf que les missionnaires viennent de lui confier, et le fait cuire avec le bois de la charrue.« Joseph De Maistre: Les soirées de Saint-Pétersbourg ed Hattier Paris 〈1922〉 p 23 (Deuxième entretien) [J 64 a, 2]
Der chevalier im troisième entretien: »Je voudrais, m’en coûtât-il grand’ chose, découvrir une vérité faite pour choquer tout le genre humain: je la lui dirais à brûle-pourpoint.« Joseph De Maistre: Les soirées de Saint-Pétersbourg ed Hattier p 29 [J 64 a, 3]
»Défiez-vous surtout d’un préjugé très-commun …: celui de croire que la grande réputation d’un livre suppose une connaissance très-répandue et très-raisonnée du même livre. Il n’en est rien, je vous l’assure. L’immense majorité ne jugeant et ne pouvant juger que sur parole, un assez petit nombre d’hommes fixent d’abord l’opinion. Ils meurent et cette opinion leur survit. De nouveaux livres qui arrivent ne laissent plus le temps de lire les autres; et bientôt ceux-ci ne sont jugés que sur une réputation vague.« Joseph De Maistre: Les soirées de Saint-Pétersbourg ed Hattier Paris p 44 (Sixième entretien) [J 64 a, 4]
»La terre entière, continuellement imbibée de sang, n’est qu’un autel immense où tout ce qui vit doit être immolé sans fin, sans mesure, sans relâche, jusqu’à la consommation des choses, jusqu’à l’extinction du mal, jusqu’à la mort de la mort.« De Maistre: Soirées ed Hattier p 61 (septième entretien La Guerre) [J 64 a, 5]
Die Figuren der Soirées de Saint-Pétersbourg: der chevalier hat den Einfluß Voltaires erlitten, der sénateur ist Mystiker, der comte stellt die Lehrmeinung des Verfassers selbst dar. [J 64 a, 6]
»Mais savez-vous, messieurs, d’où vient ce débordement de doctrines insolentes qui jugent Dieu sans façon et lui demandent compte de ses décrets? Elles nous viennent de cette phalange nombreuse qu’on appelle les savants, et que nous n’avons pas su tenir dans ce siècle à leur place, qui est la seconde. Autrefois il y avait très peu de savants, et un très petit nombre de ce très petit nombre était impie; aujourd’hui on ne voit que savants: c’est un métier, c’est une foule, c’est un peuple; et parmi eux l’exception, déjà si triste, est devenue règle. De toutes parts ils ont usurpé une influence sans bornes: et cependant, s’il y a une chose sûre dans le monde, c’est, à mon avis, que ce n’est point à la science qu’il appartient de conduire les hommes. Rien de ce qui est nécessaire ne lui est confié: il faudrait avoir perdu l’esprit pour croire que Dieu ait chargé les académies de nous apprendre ce qu’il est et ce que nous lui devons. Il appartient aux prélats, aux nobles, aux grands officiers de l’état d’être les dépositaires et les gardiens des vérités conservatrices; d’apprendre aux nations ce qui est mal et ce qui est bien; ce qui est vrai et ce qui est faux dans l’ordre moral et spirituel: les autres n’ont pas droit de raisonner sur ces sortes de matières. Ils ont les sciences naturelles pour s’amuser: de quoi pourraient-ils se plaindre?« De Maistre: Les soirées de Saint-Pétersbourg ed Hattier Paris p 72 (huitième entretien) [J 65, 1]
Über Gerichtsverfahren: »Sous l’empire de la loi mahométane, l’autorité punit et même de mort l’homme qu’elle en juge digne au moment et sur le lieu même où elle le saisit; et ces exécutions brusques, qui n’ont pas manqué d’aveugles admirateurs, sont néanmoins une des nombreuses preuves de l’abrutissement et de la réprobation de ces peuples. Parmi nous, l’ordre est tout différent: il faut que le coupable soit arrêté; il faut qu’il soit accusé; il faut qu’il se défende; il faut surtout qu’il pense à sa conscience et à ses affaires; il faut des préparatifs matériels pour son supplice; il faut enfin, pour tenir compte de tout, un certain temps pour le conduire au lieu du châtiment, qui est fixe. L’échafaud est un autel: il ne peut donc être placé ni déplacé que par l’autorité; et ces retards, respectables jusque dans leurs excès, et qui de même ne manquent pas d’aveugles détracteurs, ne sont pas moins une preuve de notre supériorité.« De Maistre: Les soirées de Saint-Pétersbourg ed Hattier Paris p 78 (dixième entretien) [J 65, 2]
Gott erscheint bei De Maistre als mysterium tremendum. [J 65, 3]
Im septième entretien »la guerre« eine Reihe von Perioden, die mit der Formel »la guerre est divine« beginnen. Unter diesen eine der extravagantesten: »La guerre est divine dans la protection accordée aux grands capitaines, même aux plus hasardeux, qui sont rarement frappés dans les combats.« Soirées de Saint-Pétersbourg p 61/62 [J 65 a, 1]
Es besteht bei Baudelaire eine latente Spannung zwischen der destruktiven und der idyllischen, der blutigen und der besänftigenden Natur des Todes. [J 65 a, 2]
Die Jugendstilwendungen sind bei Baudelaire noch fortschrittlich zu nennen. [J 65 a, 3]
»l’appareil sanglant de la Destruction« ist der Hof der Allegorie. [J 65 a, 4]
Der Historizismus des 19ten Jahrhunderts ist der fond, von dem Baudelaires recherche de la modernité sich abhebt. (Villemain, Cousin) [J 65 a, 5]
Solange es historischen Schein gibt, wird er in der Natur als seinem letzten refugium hausen. Die Ware, die der letzte Brennspiegel historischen Scheins ist, feiert ihren Triumph darin, daß die Natur selber Warencharakter annimmt. Dieser Warenschein der Natur ist es, der in der Hure verkörpert ist. »Geld macht sinnlich« heißt es und diese Formel gibt selbst nur den gröbsten Umriß eines Tatbestandes, der weit über die Prostitution hinausreicht. Unter der Herrschaft des Warenfetischs tingiert sich der sex-appeal der Frau mehr oder minder mit dem Appell der Ware. Nicht umsonst haben die Beziehungen des Zuhälters zu seiner Frau als einer von ihm auf dem Markte verkauften »Sache« die sexuelle Phantasie des Bürgertums intensiv angeregt. Die moderne Reklame erweist von einer Seite, wie sehr die Lockungen von Weib und von Ware mit einander verschmelzen können. Die Sexualität, die vordem – gesellschaftlich – durch die Phantasie von der Zukunft der Produktivkräfte mobil gemacht wurde, wurde es nun durch die von der Kapitalmacht. [J 65 a, 6]
Welche Bewandtnis es mit dem Neuen hat, das lehrt vielleicht der flaneur am besten. Der Schein einer in sich bewegten, in sich beseelten Menge ist es, an dem er seinen Durst nach dem Neuen löscht. In der Tat ist dieses Kollektiv durchaus nichts als Schein. Diese »Menge«, an der der flaneur sich weidet, ist die Hohlform, in die siebenzig Jahre später die Volksgemeinschaft gegossen wurde. Der flâneur, der sich auf seine Aufgewecktheit, auf seine Eigenbrötelei viel zu gute tut, war auch darin seinen Zeitgenossen vorangeeilt, daß er als erster einem Trugbild zum Opfer fiel, das seitdem viele Millionen geblendet hat. [J 66, 1]
Baudelaire idealisiert die Erfahrung der Ware indem er ihr die von der Allegorie als Kanon anweist. [J 66, 2]
Wenn es die Phantasie ist, die der Erinnerung die Korrespondenzen darbringt, so ist es das Denken, das ihr die Allegorie widmet. Die Erinnerung führt Phantasie und Denken zueinander. [J 66, 3]
Mit den neuen Herstellungsverfahren, die zu Imitationen führen, schlägt sich der Schein in der Ware nieder. [J 66, 4]
Zwischen der Theorie der natürlichen Korrespondenzen und der Absage an die Natur besteht ein Widerspruch. Er löst sich auf, indem die Impressionen in der Erinnerung vom Erlebnis entbunden werden, so daß die in ihnen gebundene Erfahrung frei wird und zum allegorischen Fundus geschlagen werden kann. [J 66, 5]
George hat spleen et idéal mit »Trübsinn und Vergeistigung〈«〉 übersetzt und damit die wesentliche Bedeutung des Ideals bei Baudelaire getroffen. [J 66, 6]
Bei Meryon kommen Majestät und Gebrechlichkeit von Paris zur Geltung. [J 66, 7]
In der Gestalt, die die Prostitution in den großen Städten angenommen hat, erscheint die Frau nicht nur als Ware sondern im prägnanten Sinne als Massenartikel. Durch die Verkleidung des individuellen Ausdrucks zugunsten eines professionellen, wie er das Werk der Schminke ist, wird das angedeutet. Späterhin unterstreichen das die uniformierten girls der Revue. [J 66, 8]
Daß Baudelaire dem Fortschritt feindlich gegenüberstand, ist die unerläßliche Bedingung dafür gewesen, daß er Paris in seiner Dichtung bewältigt hat. Mit der seinen verglichen, steht alle spätere Großstadtlyrik im Zeichen der Schwäche. Ihr fehlt eben die Reserve ihrem Sujet gegenüber, die Baudelaire seiner frenetischen Feindschaft gegen den Fortschritt zu danken hatte. [J 66 a, 1]
Bei Baudelaire steht Paris als ein Wahrzeichen der Antike in Kontrast zu seiner Masse als Wahrzeichen der Moderne. [J 66 a, 2]
Zum spleen de Paris: das fait〈s〉 divers ist die Hefe, die die Masse der großen Stadt in Baudelaires Phantasie aufgehen läßt. [J 66 a, 3]
Der spleen ist das Gefühl, das der Katastrophe in Permanenz entspricht. [J 66 a, 4]
Es ist eine sehr spezifische Erfahrung, die das Proletariat an der Großstadt macht. Eine in manchem ähnliche macht in ihr der Emigrant. [J 66 a, 5]
Dem flaneur ist seine Stadt – und sei er in ihr geboren, wie Baudelaire – nicht mehr Heimat. Sie stellt für ihn einen Schauplatz dar. [J 66 a, 6]
Baudelaire hat niemals ein Hurengedicht von einer Hure aus geschrieben. 〈(〉Vgl dagegen Brecht: Lesebuch für Städtebewohner 5) [J 66 a, 7]
Dupont-Vorrede von 1851,Dupont-Essay von 1861 [J 66 a, 8]
In der Erotologie des Verdammten – so könnte man die von Baudelaire nennen – sind Unfruchtbarkeit und Impotenz die entscheidenden Gegebenheiten. Sie allein sind es, die den grausamen und verrufenen Triebmomenten in der Sexualität den rein negativen Charakter geben. Sie verlieren ihn nämlich im Akt der Zeugung ebenso wie im Aktus des lebenslänglichen Verhältnisses (kurz der Ehe). Diese auf lange Sicht gestifteten Wirklichkeiten – das Kind, die Ehe – hätten nicht die geringste Gewähr für ihre Dauer, wenn nicht die destruktivsten Energien des Menschen in ihre Stiftung eingingen, zu deren Solidität sie nicht weniger sondern mehr beitragen als viele andere. In diesem Beitrage aber sind sie soweit legitimiert als dies für die entscheidenden menschlichen Triebregungen in der gegenwärtigen Gesellschaft überhaupt dargestellt werden kann. [J 66 a, 9]
Der gesellschaftliche Wert der Ehe beruht entscheidend auf ihrer Dauer, indem in dieser letzten die Vorstellung einer letzten endgültigen aber lebenswierig aufgeschobenen »Auseinandersetzung« der Gatten beschlossen liegt; vor dieser Auseinandersetzung bleiben die Gatten bewahrt solange die Ehe dauert, also grundsätzlich lebenslang. [J 67, 1]
Verhältnis von Ware und Allegorie: Der »Wert« als natürlicher Brennspiegel geschichtlichen Scheins überbietet die »Bedeutung«. Sein Schein kann schwerer zerstreut werden. Er ist übrigens der neueste. Der Fetischcharakter der Ware war im Barock noch relativ unentwickelt. Auch hatte die Ware dem Produktionsprozeß ihr Stigma – die Proletarisierung der Produzierenden – noch nicht so tief eingedrückt. Darum war die allegorische Anschauung im siebenzehnten Jahrhundert stilbildend, im neunzehnten aber nicht mehr, Baudelaire ist als Allegoriker isoliert gewesen. Er suchte die Erfahrung der Ware auf die allegorische zurückzuführen. Das mußte scheitern und dabei zeigte sich: die Rücksichtslosigkeit seines Ansatzes wurde durch die Rücksichtslosigkeit der Wirklichkeit überboten. Daher ein Einschlag in seinem Werk, der pathologisch oder sadistisch nur darum wirkt, weil er an der Wirklichkeit vorbeitraf – doch nur ums Haar. [J 67, 2]
Es ist die gleiche geschichtliche Nacht, bei deren Einbruch die Eule der Minerva (mit Hegel) ihren Flug beginnt und der Eros (mit Baudelaire) bei gelöschter Fackel vor leerem Lager den gewesenen Umarmungen nachsinnt. [J 67, 3]
Die Erfahrung der Allegorie, die an den Trümmern festhält, ist eigentlich die der ewigen Vergängnis. [J 67, 4]
Die Prostitution kann in dem Augenblick den Anspruch erheben, als »Arbeit« zu gelten, in dem die Arbeit Prostitution wird. In der Tat ist die Lorette die erste, die auf die Verkleidung als Liebhaberin radikal Verzicht leistet. Sie läßt sich schon ihre Zeit bezahlen; von da ist es kein sehr weiter Weg mehr zu denen, die auf »Arbeitslohn« Anspruch machen. [J 67, 5]
Im Jugendstil ist bereits die bürgerliche Tendenz im Spiel, Natur und Technik als absolute Gegensätze miteinander zu konfrontieren. So hat später der Futurismus der Technik eine destruktive naturfeindliche Pointe gegeben; im Jugendstil sind Kräfte im Werden, die in solcher Richtung zu wirken bestimmt waren. Die Vorstellung einer durch die technische Entwicklung gebannten und gleichsam denaturierten Welt ist in vielen seiner Gebilde am Werk. [J 67, 6]
Die Dirne verkauft nicht ihre Arbeitskraft; ihr Gewerbe führt aber die Fiktion mit sich, daß sie ihre Genußfähigkeit verkaufe. Insofern dies die äußerste Erweiterung darstellt, die der Umfang der Ware erfahren kann, war die Dirne von jeher eine Vorläuferin der Warenwirtschaft. Aber eben weil der Warencharakter sonst unentfaltet war, brauchte diese Seite an ihr nicht entfernt so grell hervorzutreten wie später. In der Tat zeigt zum Beispiel die mittelalterliche Prostitution nicht die Kraßheit derer, die im neunzehnten Jahrhundert die Regel wurde. [J 67 a, 1]
Die Spannung zwischen Emblem und Reklamebild läßt ermessen, welche Veränderungen seit dem XVII Jahrhundert mit der Dingwelt vor sich gegangen sind. [J 67 a, 2]
Starke Fixierungen des Geruchssinns, wie sie bei Baudelaire bestanden zu haben scheinen, dürften den Fetischismus wahrscheinlich machen. [J 67 a, 3]
Das neue Ferment, das in das taedium vitae eintretend, dieses zum spleen macht, ist die Selbstentfremdung. [J 67 a, 4]
Aushöhlung des Innenlebens. Von dem unendlichen Regreß der Reflexion, die in der Romantik den Lebensraum, spielhaft, zugleich in immer ausgespanntern Kreisen erweiterte und in immer enger gefaßtem Rahmen verkleinerte, ist Baudelaire nur das tête à tête sombre et limpide mit sich selbst geblieben, wie er es im Bilde einer Konversation zwischen cœur-Bube und pique-Dame in einem alten Kartenspiele vergegenwärtigt. Später sagt Jules Renard: »Son cœur … plus seul qu’un as de cœur au milieu d’une carte à jouer.« [J 67 a, 5]
Es dürfte der engste Zusammenhang zwischen der allegorischen Bildphantasie und der im Haschischrausch dem Denken in Hörigkeit gegebenen bestehen. In der letztern wirken verschiedene Genien: einer des melancholischen Tiefsinns, einer der arielhaften Spiritualität. [J 67 a, 6]
»Une martyre« ist beziehungsreich durch die Stelle, die ihr unmittelbar hinter »la destruction« zukommt. An dieser Märtyrerin hat die allegorische Intention ihr Werk getan: sie ist zerstückelt. [J 67 a, 7]
In »la mort des amants« weben die correspondances ohne jeden Einschlag der allegorischen Intention. Schluchzen und Lächeln – als die Wolkenformen des Menschengesichts – treten in den Terzinen zusammen. Villiers de l’Isle-Adam sah in diesem Gedicht – wie er Baudelaire schrieb – dessen théories musicales angewandt. [J 67 a, 8]
»la destruction« über den démon: »Je … le sens qui brûle mon poumon | Et l’emplit d’un désir éternel et coupable.« Die Lunge als Sitz eines Wunsches ist die kühnste Umschreibung seiner Unerfüllbarkeit, die sich denken läßt, vgl den fleuve invisible der Bénédiction. [J 68, 1]
Von allen baudelaireschen Gedichten enthält die »destruction« die rücksichtsloseste Vergegenwärtigung der allegorischen Intention. Der appareil sanglant, dessen Anschauung der Dämon dem Dichter aufzwingt, ist der Hof der Allegorie: das verstreute Werkzeug, mit dem sie die Dingwelt so entstellt und so zugerichtet hat, daß nur noch die Bruchstücke von ihr da sind, an denen sie einen Gegenstand ihres Grübelns hat. Das Gedicht bricht schroff ab; es macht – doppelt erstaunlich für ein Sonett – selbst den Eindruck von etwas Bruchstückhaftem. [J 68, 2]
Zum vin d〈es〉 chiffonnier〈s〉 ist »dans ce cabriolet« von Sainte-Beuve (〈Les consolations〉 Paris 1863 II p 193) zu vergleichen:»Dans ce cabriolet de place j’examine
L’homme qui me conduit, qui n’est plus que machine,
Hideux, à barbe épaisse, à longs cheveux collés:
Vice et vin et sommeil chargent ses yeux soûlés.
Comment l’homme peut-il ainsi tomber? pensais-je,
Et je me reculais à l’autre coin du siège.«Es folgt dann die Frage an sich selbst, ob seine Seele nicht ähnlich verwahrlost sei wie die Seele des Kutschers. Baudelaire nennt dieses Gedicht in seinem Brief vom 15 Januar 1866 an Sainte-Beuve. [J 68, 3]
Der chiffonnier ist die provokatorischste Figur menschlichen Elends. Lumpenproletarier im doppelten Sinn, in Lumpen gekleidet und mit Lumpen befaßt. »Voici un homme chargé de ramasser les débris d’une journée de la capitale. Tout ce que la grande cité a rejeté, tout ce qu’elle a perdu, tout ce qu’elle a dédaigné, tout ce qu’elle a brisé, il le catalogue, il le collectionne. Il compulse les archives de la débauche, le capharnaüm des rebuts. Il fait un triage, un choix intelligent; il ramasse, comme un avare un trésor, les ordures qui, remâchées par la divinité de l’Industrie, deviendront des objets d’utilité ou de jouissance.« (Du vin et du haschisch Œuvres I 249/50) Baudelaire erkennt sich, wie aus dieser Prosaschilderung von 1851 des Lumpensammlers zu ersehen ist, in ihm wieder. Das Gedicht führt eine weitere unmittelbar als solche benannte Verwandtschaft mit dem Dichter auf: »On voit un chiffonnier qui vient, hochant la tête, | Buttant, et se cognant aux murs comme un poëte, | Et, sans prendre souci des mouchards, ses sujets, | Epanche tout son cœur en glorieux projets.« [J 68, 4]
Es spricht vieles dafür, daß le vin d〈es〉 chiffonnier〈s〉 geschrieben wurde als Baudelaire sich zum beau utile bekannte. (Genaueres läßt sich darüber nicht ausmachen, da es zuerst in der Buchausgabe der fleurs du mal erschienen ist. – Le vin de Passassin wurde 1848 zuerst publiziert – im Echo des marchands de vins!) Das chiffonnier-Gedicht desavouiert kraftvoll die reaktionären Bekenntnisse Baudelaires. Die Literatur über den Dichter ist an ihm vorübergegangen. [J 68 a, 1]
»Croyez-moi, le vin des barrières a sauvé bien des secousses aux charpentes gouvernementales.« Edouard Foucaud: Paris inventeur Physiologie de l’industrie française Paris 1844 p 10 [J 68 a, 2]
Zum vin d〈es〉 chiffonnier〈s〉: »Nous avons queuqu’ radis, | Pierre, il faut fair’ la noce; | Moi, vois-tu, les lundis | J’aime à rouler ma bosse. | J’sais du vin à six ronds | Qui n’est pas d’la p’tit’ bière, | Pour rigoler montons, | Montons à la barrière.« H Gourdon de Genouillac: Les refrains de la rue de 1830 à 1870 Paris 1879 p 56 [J 68 a, 3]
Traviès zeichnete oft den Typus des chiffonniers. [J 68 a, 4]
In l’âme du vin figuriert der Sohn des Proletariers in den Worten »ce frêle athlète de la vie« – eine unendlich traurige Entsprechung von Moderne und Antike. [J 68 a, 5]
Zum sectionnement du temps: die verborgene Konstruktion des vin des amants beruht darauf, daß erst spät das nun überraschende Licht auf die in Rede stehende Situation fällt: der Rausch, den die Liebenden dem Wein zu verdanken haben, ist ein Rausch in der Morgenstunde, »dans le bleu cristal du matin〈«〉 – das ist die Zeile des vierzehnzeiligen Gedichts. [J 68 a, 6]
Bei den amants »mollement balancés sur l’aile | Du tourbillon intelligent« ist es naheliegend, eine Reminiszenz an Fourier anzunehmen. »Les tourbillons«, heißt es in Silberlings Dictionnaire de sociologie phalanstérienne Paris 1911 p 433, »de mondes planétaires si mesurées dans leur marche, qu’ils parcourent à minute nommée des milliards de lieues, sont à nos yeux le sceau de la justice divine en mouvement matériel.« (Fourier: Théorie en concret ou positive p 320) [J 68 a, 7]
Baudelaire baut Strophen dort, wo sie zu errichten beinahe unmöglich scheinen sollte. So in der 6ten Strophe von Lesbos: »… cœurs ambitieux, | Qu’attire loin de nous le radieux sourire | Entrevu vaguement au bord des autres cieux!« [J 68 a, 8]
Zur Entweihung der Wolken: »Je vis en plein midi descendre sur ma tête | Un nuage funèbre et gros d’une tempête, | Qui portait un troupeau de démons vicieux« – dies ist die Vorstellung, die unmittelbar von einem Blatte Meryons herrühren könnte. [J 69, 1]
Es ist selten, daß in der französischen Dichtung die Großstadt in der unmittelbaren Darstellung ihrer Bewohner und nicht anders zum Ausdruck kommt. So geschieht es mit unüberbietbarer Kraft in Shelleys Gedicht auf London. (Hatte Shelleys London nicht mehr Einwohner als das Paris von Baudelaire?) Bei Baudelaire trifft man von einer ähnlichen Anschauung nur Spuren vor, in Wahrheit zahlreiche. An wenigen Stellen aber hat er große Stadt so ausschließlich in dem gezeichnet, was sie aus ihren Bewohnern macht wie in Spleen I. Das Gedicht enthält verborgen wie ihre entseelten Massen und das hoffnungslos entleerte Dasein der Einzelnen einander zu Komplementen werden. Für die ersten stehen der cimetière und die faubourgs ein – Massenansammlungen der Städtebewohner; für das zweite der valet de cœur und die dame de pique. [J 69, 2]
Die hoffnungslose Hinfälligkeit der großen Stadt spricht besonders deutlich aus der ersten Strophe des Spleen I. [J 69, 3]
In dem einleitenden Gedicht der fleurs du mal tritt Baudelaire das Publikum in einer ganz ungewöhnlichen Haltung an. Er encanailliert sich mit ihm, wenn auch nicht auf die gemütliche Art und Weise. Man könnte sagen, er sammelt die Leser wie eine Kamarilla um sich. [J 69, 4]
Das Bewußtsein der leer verrinnenden Zeit und das taedium vitae sind die beiden Gewichte, die das Räderwerk der Melancholie in Gang halten. Insofern entsprechen das letzte Gedicht des Zyklus spleen et idéal und der Zyklus la mort einander genau. [J 69, 5]
Das Gedicht l’horloge geht in der allegorischen Behandlung besonders weit. Um die Uhr, die in der Hierarchie der Embleme einen besonderen Rang einnimmt, gruppiert es die Lust, das Jetzt, die Zeit, den Zufall, die Tugend und die Reue, (zur sylphide cf das théâtre banal in L’irréparable und zur auberge die auberge im gleichen Gedicht.) [J 69, 6]
Der »ciel bizarre et livide« der horreur sympathique ist der meryonsche. [J 69, 7]
Zum sectionnement du temps, insbesondere zur »horloge« Poes Colloque entre Monos et Una: »Il me semblait que dans mon cerveau était né ce quelque chose dont aucuns mots ne peuvent traduire à une intelligence purement humaine une conception même confuse. Permets-moi de définir cela: vibration du pendule mental. C’était la personnification morale de l’idée humaine abstraite du Temps … C’est ainsi que je mesurai les irrégularités de la pendule de la cheminée et des montres des personnes présentes. Leurs tic tac remplissaient mes oreilles de leurs sonorités. Les plus légères déviations de la mesure juste … m’affectaient exactement comme, parmi les vivants, les violations de la vérité abstraite affectaient mon sens moral.« (Edgar Allan Poe: Nouvelles histoires extraordinaires 〈Paris 1886〉 p 336/7) Diese Beschreibung ist nichts als ein einziger großer Euphemismus für die völlige Leere des Zeitverlaufes, dem der Mensch im spleen ausgeliefert ist. [J 69 a, 1]
»… sitôt qu’à l’horizon | La nuit voluptueuse monte, | Apaisant tout, même la faim, | Effaçant tout, même la honte« (la fin de la journée) – das ist das Wetterleuchten der sozialen Konflikte am Nachthimmel der Großstadt. [J 69 a, 2]
»… tu me parais, ornement de mes nuits, | Plus ironiquement accumuler les lieues | Qui séparent mes bras des immensités bleues.« (Je t’adore à l’égal) Hierzu: »Et le visage humain, qu’Ovide croyait façonné pour refléter les astres, le voilà qui ne parle (?!) plus qu’une expression de férocité folle, ou qui se détend dans une espèce de mort.« (Œuvres II p 628 Fusées III) [J 69 a, 3]
Es wäre in der Behandlung des Allegorischen im Werke von Baudelaire nicht richtig, über dem barocken Einschlag den mittelalterlichen zu übersehen. Er ist schwer zu umschreiben. Am ehesten wird man seiner habhaft, wenn man sich vergegenwärtigt, wie sehr gewisse Stellen, gewisse Gedichte (Vers pour le portrait de M Honoré Daumier, L’avertisseur, Le squelette laboureur) in ihrer bedeutungsvollen Kahlheit von andern mit Bedeutungen überladenen abstechen. Die Entblößung gibt ihnen einen Ausdruck, den man auf den Porträts von Fouquet findet. [J 69 a, 4]
Ein blanquischer Blick auf den Erdball: »Je contemple d’en haut le globe en sa rondeur, | Et je n’y cherche plus l’abri d’une cahute.« (le goût du néant) Der Dichter hat seine Wohnung im Weltraum aufgeschlagen – man kann auch sagen, im Abgrunde. [J 69 a, 5]
Die Vorstellungen wandeln am Melancholiker langsam, nach Art einer Prozession vorüber. Das Bild, typisch in diesem Symptomzusammenhange, ist bei Baudelaire nicht häufig. Es findet sich im horreur sympathique〈:〉 »Vos vastes nuages en deuil | Sont les corbillards de mes rêves.« [J 70, 1]
»Des cloches tout à coup sautent avec furie
Et lancent vers le ciel un affreux hurlement«
(Spleen IV) Der Himmel, der von den Glocken angefallen wird, ist der, in dem sich die Spekulationen von Blanqui bewegen. [J 70, 2]
»Derrière les décors
De l’existence immense, au plus noir de l’abîme,
Je vois distinctement des mondes singuliers«
(La voix) Das sind die Welten der Eternité par les astres, cf le Gouffre: »Je ne vois qu’infini par toutes les fenêtres.« [J 70, 3]
Zieht man zu »l’lrrémédiable« »Un jour de pluie« heran, das von Mouquet Baudelaire zugeschrieben wird, so wird es ganz deutlich, wie es das Ausgeliefertsein an den Abgrund ist, das Baudelaire inspiriert und wo dieser Abgrund sich eigentlich auftut. Die Seine lokalisiert den jour de pluie in Paris. Es heißt: »Dans un brouillard chargé d’exhalaisons subtiles | Les hommes enfouis comme d’obscurs reptiles, | Orgueilleux de leur force, en leur aveuglement, | Pas à pas sur le sol glissent péniblement.« (I p 212) Im Irrémédiable ist dieses pariser Straßenbild eine der allegorischen Visionen des Abgrunds geworden, die der Schluß als »emblèmes nets« bezeichnet: »Un damné descendant sans lampe, | Au bord d’un gouffre … | Où veillent des monstres visqueux | Dont les larges yeux de phosphore | Font une nuit plus noire encore.« (I, p 92/93) [J 70, 4]
Crépet zitiert zu dem Emblemenkatalog, den das Gedicht l’irrémédiable darstellt, eine Stelle aus den Soirées de Saint-Pétersbourg: »Ce fleuve qu’on ne passe qu’une fois; ce tonneau des Danaïdes toujours rempli et toujours vide; ce foie de Titye, toujours renaissant sous le bec du vautour qui le dévore toujours … sont autant d’hiéroglyphes parlant, sur lesquels il est impossible de se méprendre.« [J 70, 5]
Die Geberde des Segnens mit senkrecht erhobenen Armen, bei Fidus (auch im Zarathustra?) – eine Trägergeberde. [J 70, 6]
Aus dem projet d’épilogue: »Tes magiques pavés dressés en forteresses, | Tes petits orateurs, aux enflures baroques, | Prêchant l’amour, et puis tes égouts pleins de sang, | S’engouffrant dans l’Enfer comme des Orénoques.« (I p 229) [J 70 a, 1]
Bénédiction stellt den Lebensweg des Dichters als Passion dar. »Il … s’enivre en chantant du chemin de la croix.« Stellenweise erinnert das Gedicht von fern an die Phantasie, in der Apollinaire im »poète assassiné« die Ausrottung der Dichter durch den entfesselten Spießer geschildert hat: »Et les vastes éclairs de son esprit lucide | Lui dérobent l’aspect des peuples furieux.« [J 70 a, 2]
Ein blanquischer Blick auf die Menschheit (zugleich einer der seltenen Verse von Baudelaire, die einen kosmischen Aspekt aufrollen): »Le Ciel! couvercle noir de la grande marmite | Où bout l’imperceptible et vaste Humanité.« (Le Couvercle) [J 70 a, 3]
Es sind vor allem die Souvenirs, denen der regard familier (dieser Blick, der kein anderer ist als der Blick gewisser Porträts, erinnert an Poe) eignet. [J 70 a, 4]
»Dans ces soirs solennels de célestes vendanges« (l’imprévu) – eine Himmelfahrt des Herbstes. [J 70 a, 5]
»Cybèle, qui les aime, augmente ses verdures« – nach Brechts schöner Übersetzung: »Cybele, die sie liebt, legt mehr Grün vor.« Eine Versetzung des Organischen liegt darinnen. [J 70 a, 6]
Le Gouffre ist das baudelairesche Äquivalent der Vision von Blanqui. [J 70 a, 7]
»O vers! noirs compagnons sans oreille et sans yeux« – darin ist etwas wie Sympathie mit den Schmarotzern. [J 70 a, 8]
Vergleich der Augen mit erleuchteten Schaufenstern: »Tes yeux, illuminés ainsi que des boutiques | Et des ifs flamboyants dans les fêtes publiques, | Usent insolemment d’un pouvoir emprunté.« (Tu mettrais l’univers) [J 70 a, 9]
Zu La servante au grand cœur: In der ersten Zeile liegt auf den Worten »dont vous étiez jalouse« nicht der Ton, den man erwarten sollte. Von jalouse zieht sich die Stimme gleichsam zurück. Diese Ebbe der Stimme ist etwas höchst Kennzeichnendes. (Bemerkung von Pierre Leyris) [J 70 a, 10]
Die sadistische Phantasie neigt zu maschinellen Konstruktionen. Vielleicht sieht Baudelaire, wenn er von der »élégance sans nom de l’humaine armature« spricht, im Skelett eine Art von Maschinerie. Deutlicher heißt es in le vin de l’assassin: »Cette crapule invulnérable | Comme les machines de fer | Jamais, ni l’été ni l’hiver, | N’a connu l’amour véritable.« Und schlagend: »Machine aveugle et sourde, en cruautés féconde!« (Tu mettrais l’univers) [J 71, 1]
»Altmodisch« und »unvordenklich« liegen bei Baudelaire noch beisammen. Die 〈Dinge〉, die sich überlebt haben, sind unerschöpfliche Behälter von Erinnerungen geworden. So treten die alten Frauen (petites vieilles) in Baudelaires Dichtung ein, so die verflossenen Jahre (Recueillement), so vergleicht sich der Dichter selbst mit einem »vieux boudoir plein de roses fanées, | Où gît tout un fouillis de modes surannées«. (Spleen II) [J 71, 2]
Sadismus und Fet〈i〉schismus verschränken sich in den Phantasien, die alles organische Leben zum Fundus des Anorganischen schlagen wollen. »Désormais tu n’es plus, ô matière vivante! | Qu’un granit entouré d’une vague épouvante, | Assoupi dans le fond d’un Saharah brumeux.« (Spleen II) Der Anheimfall des Lebendigen an die tote Materie hat gleichzeitig aufs stärkste Flaubert beschäftigt. Die Visionen des Heiligen Antonius sind ein Triumph des Fet〈i〉schismus und dem ebenbürtig, den Bosch auf dem Lissabonner Altar gefeiert hat. [J 71, 3]
Wenn der Crépuscule du matin mit dem Zapfenstreich im Hofe der Kasernen einsetzt, so muß man sich vergegenwärtigen, daß unter Napoleon III aus leicht ersichtlichen Gründen das Innere der Stadt mit Kasernen belegt gewesen ist. [J 71, 4]
Lächeln und Schluchzen sind, als Wolkenform des Menschengesichts, eine unüberbietbare Bekundung seiner Spiritualität. [J 71, 5]
Im Rêve parisien erscheinen die Produktivkräfte stillgelegt. Die Landschaft dieses Traums ist die blendende Luftspiegelung der stumpfen und trostlosen, die in de profundis clamavi zum Universum wird. »Un soleil sans chaleur plane au-dessus six mois, | Et les six autres mois la nuit couvre la terre; | C’est un pays plus nu que la terre polaire; | – Ni bêtes, ni ruisseaux, ni verdure, ni bois!« [J 71, 6]
Die Phantasmagorie des rêve parisien erinnert an die der Weltausstellungen, in der die Bourgeoisie der Ordnung des Eigentums und der Produktion ihr »Verweile doch, du bist so schön« zuruft. [J 71, 7]
Proust zu »versent quelque héroïsme au cœur des citadins«: »Il semble impossible d’aller au-delà.« [J 71 a, 1]
»Et qui, dans ces soirs d’or où l’on se sent revivre« – die zweite Vershälfte fällt in sich zusammen. Sie steht prosodisch im Widerspruche zu dem, was sie aussagt. Das ist ein für Baudelaire kennzeichnendes Verfahren. [J 71 a, 2]
»dont le souffleur | Enterré sait le nom« – das kommt aus der Welt von Poe. (vgl Remords posthume, le mort joyeux) [J 71 a, 3]
Die einzige Steile der fleurs du mal, die der baudelaireschen Anschauung von den Kindern Widerpart bietet, ist die fünfte Strophe des ersten Gedichtes der petites vieilles: »Ils ont les yeux divins de la petite fille | Qui s’étonne et qui rit à tout ce qui reluit.« Um diese Ansicht der Kindheit zu gewinnen, nimmt der Dichter den längsten Weg – den Weg über das Alter. [J 71 a, 4]
In Baudelaires Werk stehen das 99ste und 100ste Gedicht der fleurs du mal fremd und abgesondert wie die großen Götterbilder der Osterinseln. Man weiß, daß sie zu den ältesten Stücken des Buches gehören; zum Überfluß hat Baudelaire selbst sie seiner Mutter als auf sie bezogene gekennzeichnet, denen er keine Titel gegeben habe, weil jede Bekanntmachung dieses geheimen Zusammenhanges anstößig für ihn sei. Was diese Gedichte auszeichnet, ist eine totenhafte Idyllik. Beide, ihr erstes zumal, atmen einen Frieden, wie er bei Baudelaire kaum je zu finden ist. Beide stellen das Bild der vaterlosen Familie; aber der Sohn, weit entfernt, den väterlichen Platz einzunehmen, läßt ihn leer. Die entfernte zur Küste gehende Sonne in dem ersten Gedicht ist Symbol des Vaters, dessen Blick – grand œil ouvert dans le ciel curieux – mit entferntem Anteil und ohne Eifersucht auf d〈em〉 Mahl weilt, das Mutter und Sohn mit einander teilen. Das zweite Gedicht beschwört das Bild der vaterlosen Familie, nicht um einen Tisch sondern um ein Grab. Die Schwüle des zeugungsschwangeren Lebens ist hier vollends der kühlen Nachtluft des Tods gewichen. [J 71 a, 5]
Die tableaux parisiens beginnen mit einer Transfiguration der Stadt. Das erste und das zweite, wenn man will auch das dritte Gedicht wirken darin zusammen. Le paysage ist das tête à tête der Stadt mit dem Himmel. In den Horizont des Dichters ist von der Stadt nichts eingetreten als das atelier qui chante et qui bavarde, les tuyaux, les clochers. Im Soleil tritt das faubourg dazu; nichts von der Masse der Stadt ragt in die drei ersten Gedichte der tableaux parisiens hinein. Das vierte beginnt mit der Beschwörung des Louvre. Sie aber geht – mitten in der Strophe – sogleich in die Klage über die Hinfälligkeit der großen Stadt über. [J 72, 1]
»Dessins auxquels la gravité | Et le savoir d’un vieil artiste, | … | Ont communiqué la Beauté« – die Beauté erscheint durch den bestimmten Artikel nüchtern und »stimmungslos«. Sie ist zur Allegorie ihrer selbst geworden. [J 72, 2]
Zu Brumes et pluies: die Stadt ist dem flaneur fremd geworden. Jedes Bett ist ihm ein lit hasardeux. (Vielzahl der Nachtquartiere von Baudelaire.) [J 72, 3]
Es muß überraschen, das Gedicht brumes et pluies in den Tableaux parisiens zu finden. Es legt ländliche Bilder nahe. Aber schon Sainte-Beuve hatte geschrieben: »Oh, que la plaine est triste autour du boulevard!« (La plaine – octobre – von Baudelaire gegen Sainte-Beuve am 15 janvier 1866 erwähnt.) Die Landschaft von Baudelaires Gedicht ist in der Tat die der im Nebel entrückten Stadt. Es ist der Canevas, auf den sich der ennui am liebsten stickt. [J 72, 4]
Le Cygne hat die Bewegung einer zwischen Moderne und Antike hin und her schaukelnden Wiege. In seinen Entwürfen schreibt Baudelaire: »Concevoir un canevas pour une bouffonnerie lyrique ou féerique, pour pantomime … Noyer le tout dans une atmosphère anormale et songeuse, – dans l’atmosphère des grands jours. Que ce soit quelque chose de berçant.« (Fusées XXII) Diese großen Tage sind die Tage der Wiederkehr. [J 72, 5]
Zu den démons malsains dans l’atmosphère: sie kommen als »die Dämonen der Städte« bei Georg Heym wieder. Sie sind gewaltiger geworden; weil sie aber ihre Ähnlichkeit mit den gens d’affaire verleugnen, bedeuten sie weniger. [J 72, 6]
Schlußstrophe der »Dämonen der Städte« von Heym:
»Doch die Dämonen wachsen riesengroß.
Ihr Schläfenhorn zerreißt den Himmel rot.
Erdbeben donnert durch der Städte Schoß
Um ihren Huf, den Feuer überloht.«
Georg Heym: Dichtungen München 1922 p 19 [J 72 a, 1]
Je t’adore à l’égal de la voûte nocturne – nirgends deutlicher als in diesem Gedicht ist der Sexus gegen den Eros ausgespielt. Man muß es mit der Seligen Sehnsucht vergleichen, um inne zu werden, welche Kräfte, demgegenüber, die Bindung des Sexus an den Eros der Phantasie gibt. [J 72 a, 2]
Das Sonnet d’Automne bezeichnet zurückhaltend doch genau die Verfassung, die den erotischen Erfahrungen von Baudelaire zugrunde lag: »Mon cœur, que tout irrite, | … | Ne veut pas te montrer son secret infernal, | … | Je hais la passion … | Aimons-nous doucement.« Das alles ist von weitem wie eine Replik der goetheschen Divanstrophe, die an den Huris und ihrem Dichter ein Nachbild der Erotik als eine Art paradi〈e〉sischer Variante der Sexualität heraufzaubert: »Sie mögen’s ihm freundlich lohnen, | Auf liebliche Weise fügsam, | Sie lassen ihn mit sich wohnen: | Alle Guten sind genügsam.« [J 72 a, 3]
Marx über die zweite Republik: »Leidenschaften ohne Wahrheit, Wahrheiten ohne Leidenschaft, Helden ohne Heldentaten, Geschichte ohne Ereignisse; Entwicklung, deren einzige Triebkraft der Kalender scheint, durch beständige Wiederholung derselben Spannungen und Abspannungen ermüdend … Wenn irgendein Geschichtsausschnitt grau in grau gemalt ist, so ist es dieser.« Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte ed Rjazanov Wien Berlin 〈1927〉 p 45/46 [J 72 a, 4]
Die Gegenpole in der sensitiven Anlage Baudelaires finden in gleicher Weise ihre Sinnbilder am Himmel. Der bleierne, wolkenlose ist das der vom Fetisch in Banden geschlagenen Sensualität, die Wolkengebilde sind das der vergeistigten. [J 72 a, 5]
Engels an Marx am 3 Dezember 1851: »Für heute wenigstens ist der Esel so frei … wie der Alte am Abend des 18. Brumaire, so vollständig ungeniert, daß er gar nicht umhin kann, den Esel nach allen Richtungen hin herauszukehren. Schreckliche Perspektive der Gegensatzlosigkeit!« Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte ed Rjazanov Wien Berlin p 9 [J 73, 1]
Engels an Marx am 11 Dezember 1851: »Wenn sich das Proletariat diesmal nicht in Masse geschlagen« habe, so weil »es sich vollständig seiner … Ohnmacht bewußt war, und mit fatalistischer Resignation sich solange in den erneuerten Kreislauf von Republik, Empire, Restauration und neuer Revolution ergab, bis es … neue Kräfte gesammelt hat.« Marx: Der achtzehnte Brumaire p 10 [J 73, 2]
»Der 15. Mai« [1848] »hatte bekanntlich kein anderes Resultat als Blanqui und Genossen, das heißt die wirklichen Führer der proletarischen Partei, die revolutionären Kommunisten, für die ganze Dauer des Zyklus … vom öffentlichen Schauplatz zu entfernen.« Marx: Der achtzehnte Brumaire ed Rjazanov p 28 [J 73, 3]
Amerikas Geisterwelt spielt in die Beschreibung der Menge bei Poe herein. Marx spricht von der Republik, die in Europa nur mehr »die politische Umwälzungsform der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet und nicht ihre konservative Lebensform, wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wo … Klassen … sich noch nicht fixiert haben … wo die modernen Produktionsmittel … den relativen Mangel an Köpfen und Händen ersetzen, und wo endlich die fieberhaft jugendliche Bewegung der materiellen Produktion … weder Zeit noch Gelegenheit ließ, die alte Geisterwelt abzuschaffen.« Marx: Der achtzehnte Brumaire p 30. Merkwürdig ist, daß Marx die Geisterwelt zur Erklärung der amerikanischen Republik herbeizieht. [J 73, 4]
Ist die Menge ein Schleier, so drapiert sich der Journalist mit ihm, indem er die Vielzahl seiner Beziehungen wie ebenso viele verführende Arrangements zur Geltung bringt. [J 73, 5]
Die revolutionären Nachwahlen vom 10 März 1850 brachten in Paris nur sozialdemokratische Mandate ins Parlament. Sie sollten aber »in der nachträglichen Aprilwahl, in der Wahl Eugen Sues, einen sentimental abschwächenden Kommentar finden.« Marx: Der achtzehnte Brumaire p 68 [J 73, 6]
Zum crépuscule du matin. Marx nennt Napoléon III »einen Menschen, der nicht in der Nacht beschließt, um bei Tage auszuführen, sondern bei Tage beschließt und in der Nacht ausführt.« Marx: Der achtzehnte Brumaire ed Rjazanov p 79 [J 73 a, 1]
Zum crépuscule du matin: »Staatsstreichgerüchte erfüllen Paris. Die Hauptstadt soll während der Nacht mit Truppen gefüllt werden und der andere Morgen Dekrete bringen.« Zitiert nach der europäischen Tagespresse September Oktober 1851 Marx: Der achtzehnte Brumaire p 105 [J 73 a, 2]
Marx nennt die Führer des pariser Proletariats die »Barrikadenchefs«. Der achtzehnte Brumaire p 113 [J 73 a, 3]
Zu Sainte-Beuves Wort über Lamartine, dessen Gedichte den Himmel über den Gegenden André Chéniers darstellten (J 51 a, 3), ist das Wort von Marx zu vergleichen: »Wenn die neu entstandene Parzelle in ihrem Einklang mit der Gesellschaft, in ihrer Abhängigkeit von den Naturgewalten und ihrer Unterwerfung unter die Autorität, die sie von oben beschützte, natürlich religiös war, wird die schuldzerrüttete, mit der Gesellschaft und der Autorität zerfallene, über ihre eigene Beschränktheit hinausgetriebene Parzelle natürlich irreligiös. Der Himmel war eine ganz schöne Zugabe zu dem eben gewonnenen schmalen Erdstrich, zumal da er das Wetter macht; er wird zum Insult, sobald er als Ersatz für die Parzelle aufgedrängt wird.« Marx: Der achtzehnte Brumaire p 122 Sainte-Beuves Vergleich verbunden mit dieser Stelle von Marx enthält den Schlüssel für das Wesen und für die Dauer des politischen Einflusses, den Lamartine aus seiner Dichtung herleitete. Vgl dazu seine von Pokrowski berichteten Verhandlungen mit dem russischen Botschafter. [J 73 a, 4]
Zweideutigkeit des Heroischen in der Figur des Dichters: der Dichter hat etwas von der verlumpten Soldateska, vom Marodeur an sich. Sein Fechten erinnert manchmal an den Sinn den das Wort »fechten« im Argot der Vagabunden besitzt. [J 73 a, 5]
Marx von den parasitären Kreaturen des second empire: »Um sich in den Jahren nicht zu verrechnen, zählen sie nach Minuten.« Marx: Der achtzehnte Brumaire p 126 [J 73 a, 6]
Zweideutigkeit der bei Baudelaire im Bilde des Dichters versteckten Konzeption des Heroischen. »Der Kulminierpunkt der ›idées napoléoniennes‹ … ist das Übergewicht der Armee. Die Armee war der point d’honneur der Parzellenbauern, sie selbst in Heroen verwandelt … Aber die Feinde, wogegen der französische Bauer jetzt sein Eigentum zu verteidigen hat, … sind die … Steuerexekutoren. Die Parzelle liegt nicht mehr im sogenannten Vaterland, sondern im Hypothekenbuch. Die Armee selbst ist nicht mehr die Blüte der Bauernjugend, sie ist die Sumpfblume des bäuerlichen Lumpenproletariats. Sie besteht großenteils aus Remplaçants … wie der zweite Bonaparte selbst nur Remplaçant, der Ersatzmann für Napoleon ist … Man sieht: alle ›idées napoléoniennes‹ sind Ideen der unentwickelten, jugendfrischen Parzelle, sie sind ein Widersinn für die überlebte Parzelle.« Marx: Der achtzehnte Brumaire ed Rjazanov p 122/23 [J 74, 1]
Zum Satanismus: »Als die Puritaner auf dem Konzil von Konstanz über das lasterhafte Leben der Päpste klagten …, donnerte der Kardinal Pierre d’Ailly ihnen zu: ›Nur noch der Teufel in eigener Person kann die katholische Kirche retten, und ihr verlangt Engel‹. So rief die französische Bourgeoisie nach dem Staatsstreich: Nur noch der Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember kann die bürgerliche Gesellschaft retten! Nur noch der Diebstahl das Eigentum, der Meineid die Religion, das Bastardtum die Familie, die Unordnung die Ordnung!« Marx: Der achtzehnte Brumaire ed Rjazanov p 124 [J 74, 2]
»Man kann diese höhere Schicht der Gesellschaft vom 10. Dezember sich anschaulich machen, wenn man erwägt, daß Véron-Crevel ihr Sittenprediger ist und Granier de Cassagnac ihr Denker.« Marx: Der achtzehnte Brumaire ed Rjazanov p 127 [J 74, 3]
Die pavés magiques, dressés en forteresses des épilogue-Entwurfes kennzeichnen die Grenze, die Baudelaires Dichtung in ihrer unmittelbaren Bewältigung der gesellschaftlichen Sujets gezogen war. Er verrät von den Händen nichts, die diese Pflastersteine in Bewegung setzen. Im vin des chiffonniers hat er diese Grenze zu überschreiten vermocht. [J 74, 4]
Schluß des vin d〈es〉 chiffonier〈s〉 1852:
»Dieu leur avait déjà donné le doux sommeil;
Il ajouta le vin, fils sacré du Soleil.«
Die Opposition von Dieu und l’Homme datiert von 1857. [J 74 a, 1]
Im letzten Kapitel 〈des »Salon de 1846«〉 (XVIII de l’héroïsme de la vie moderne) erscheint bezeichnenderweise als »passion particulière« – und zwar unter den genannten als die einzige von einiger Tragweite – der Selbstmord. Er stellt die große Eroberung der Moderne im Gebiete der Leidenschaft vor: »Excepté Hercule au mont Œta, Caton d’Utique et Cléopâtre … quels suicides voyez-vous dans les tableaux anciens?« Ch B: Œuvres II p 133/134 So erscheint der Selbstmord als die Quintessenz der Moderne. [J 74 a, 2]
Im XVIII. Kapitel des Salons von 1846 spricht Baudelaire von »le frac funèbre et convulsionné que nous endossons tous« (p 136); vorher über diese »livrée uniforme de désolation〈«〉: »Ces plis grimaçants, et jouant comme des serpents autour d’une chair mortifiée, n’ont-ils pas leur grâce mystérieuse?« (p 134) Ch B: Œuvres II [J 74 a, 3]
Nietzsche über den Winter 1882/83 in der Bucht von Rapallo: »Den Vormittag stieg ich in südlicher Richtung auf der herrlichen Straße nach Zoagli hin in die Höhe, an Pinien vorbei und weitaus das Meer überschauend; des Nachmittags … umging ich die ganze Bucht … bis … nach Porto fino. Dieser Ort und diese Landschaft ist durch die große Liebe, welche Kaiser Friedrich der Dritte für sie fühlte, meinem Herzen noch näher gerückt … Auf diesen beiden Wegen fiel mir der ganze erste Zarathustra ein, vor allem Zarathustra selber, als Typus: richtiger, er überfiel mich.« Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra ed Kröner Leipzig p XX, XXI Hiermit ist eine Beschreibung des fort du taureau zu konfrontieren. [J 74 a, 4]
Nietzsche hebt gegen seine »Philosophie des Mittags« – die Lehre von der ewigen Wiederkunft – die früheren Stadien seines Denkens als Philosophie der Morgenröte und des Vormittags ab. Auch er kennt das sectionnement du temps und dessen große Abschnitte. Die Frage ist berechtigt, ob diese Apperzeption der Zeit ein Element des Jugendstils gewesen ist. Wäre dem so, so verstünde man vielleicht besser, daß der Jugendstil in Ibsen einen der größten Techniker des Dramas hervorgebracht hat. [J 74 a, 5]
Je mehr sich die Arbeit der Prostitution nähert, desto einladender ist es, die Prostitution – wie das seit langem im argot der Huren geschieht – als Arbeit zu bezeichnen. Die gedachte Annäherung ging im Zeichen der Arbeitslosigkeit mit riesigen Schritten vor sich; das keep smiling übernimmt auf dem Stellenmarkt das Vorgehen der Hure, die sich auf dem Liebesmarkt einen »anlacht«. [J 75, 1]
Die Kennzeichnung des Arbeitsvorganges nach seinem Verhältnis zur Natur wird durch dessen gesellschaftliche Verfassung geprägt. Würde nämlich nicht eigentlich der Mensch ausgebeutet, so könnte man sich die uneigentliche Rede von der Ausbeutung der Natur sparen. Sie verfestigt den Schein des »Wertes«, den die Rohstoffe nur durch die auf der Ausbeutung menschlicher Arbeit beruhende Produktionsordnung bekommen. Hört diese auf, so wird die Arbeit ihrerseits den Charakter der Ausbeutung der Natur durch den Menschen abstreifen. Sie wird sich dann nach dem Modell des kindlichen Spiels vollziehen, das bei Fourier dem travail passionné der harmoniens zugrunde liegt. Das Spiel als Kanon der nicht mehr ausgebeuteten Arbeit aufgestellt zu haben, ist eines der großen Verdienste Fouriers. Eine solche vom Spiel beseelte Arbeit ist nicht die Erzeugung von Werten sondern auf eine verbesserte Natur gerichtet. Auch für sie stellt die fouriersche Utopie ein Leitbild, wie man es in der Tat in den Kinderspielen verwirklicht findet. Es ist das Bild einer Erde, auf der alle Orte zu Wirtschaften geworden sind. Der Doppelsinn des Wortes blüht hierbei auf: alle Orte sind vom Menschen bearbeitet, von ihm nutzbar und schön gemacht; alle aber stehen, wie eine Wirtschaft am Weg, allen offen. Eine nach solchem Bilde bestellte Erde würde aufhören, ein Teil zu sein »D’un monde où l’action n’est pas la sœur du rêve«. Auf ihr wäre die Tat mit dem Traum verschwistert. [J 75, 2]
Die Mode fixiert den jeweils letzten Standard der Einfühlung. [J 75, 3]
Die Entfaltung der Arbeit im Spiel setzt höchst entwickelte Produktivkräfte voraus, wie sie der Menschheit heute erst zur Verfügung stehen und im Gegensinn ihrer Möglichkeiten bereitgestellt werden: für den Ernstfall nämlich. Dennoch ist auch in Zeiten unentwickelter Produktivkräfte die seit dem neunzehnten Jahrhundert herrschende mörderische Vorstellung der Ausbeutung der Natur keineswegs maßgebend gewesen. Bestimmt hatte sie solange keine Stelle als das vorwaltende Bild der Natur das der schenkenden Mutter war, wie Bachofen es für die matriarchalischen Verfassungen entwickelt hat. Dieses Bild hat in der Gestalt der Mutter alle Wandlungen der Geschichte überdauert. Es ist aber selbstverständlich, daß es verschwommener in Epochen ist, in denen selbst viele Mütter, dem Sohn gegenüber, zur Agentin der Klasse werden, die sein Leben für Handelsinteressen einsetzt. Es spricht vieles dafür, daß die zweite Heirat der Mutter für Baudelaire dadurch nicht tragbarer wurde, daß ihre Wahl auf einen General gefallen war. Diese Heirat hat wahrscheinlich Anteil an der Entwicklung, welche sein Trieb genommen hat. Wenn dessen Leitbild die Hure wurde, so spielt diese Verkettung mit. Allerdings ist die Hure von Hause aus Verkörperung einer mit dem Warenschein durchsetzten Natur. Sie hat deren Blendkraft sogar gesteigert, weil in den Handel mit ihr die wie immer fiktive Lust mit eingeht, welche der ihres Partners entsprechen soll. Mit andern Worten: in diesem Handel figuriert die Genußfähigkeit selbst als Wert – als der Gegenstand einer Ausbeutung, sowohl durch sie wie durch ihren Partner. Auf der andern Seite wird aber hier, verzerrt, doch in mehr als Lebensgröße das Bild einer Bereitwilligkeit gestellt, die jedem gilt und die durch keinen entmutigt wird. Die weltfremde, an die Vorstellung verlorene Geilheit des Barockdichters Lohenstein hat es, in einem Baudelaire recht verwandten Sinn festgehalten: »Ein schönes Weib ist ja, die tausend Zierden mahlen, | Ein unverzehrlich Tisch, der ihrer viel macht satt. | Ein unverseigend Quell, das allzeit Wasser hat, | Ja süsse Libes-Milch; Wenn gleich in hundert Röhre | Der linde Zukker rinnt.« (Daniel Caspers von Lohenstein: Agrippina Leipzig 1724 p 33) Das Jenseits der Wahl, welches zwischen Mutter u〈nd〉 Kind u〈nd〉 das Diesseits der Wahl, welches zwischen der Hure u〈nd)〉 ihrem Partner waltet, berühren sich an einem einzigen Punkt. Dieser Punkt bezeichnet die Triebsituation von Baudelaire, (vgl X 2, 1 Marx über Prostitution) [J 75 a]
Die Verse der Seligen Sehnsucht »keine Ferne macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt« – beschreiben die Erfahrung der Aura. Die Ferne, die, im Auge der Geliebten, den Liebenden nach sich zieht, ist der Traum von der besseren Natur. Der Verfall der Aura und die – durch die defensive Position im Klassenkampf bedingte – Verkümmerung der Phantasievorstellung von einer bessern Natur sind eines. Damit sind der Verfall der Aura und der Verfall der Potenz am Ende eines. [J 76, 1]
Die Formulierung der »éternité par les astres« »C’est du nouveau toujours vieux, et du vieux toujours nouveau« entspricht auf das strengste der bei Baudelaire niedergelegten Erfahrung des spleen. [J 76, 2]
Die Formulierung der »éternité par les astres« »Le nombre de nos sosies est infini dans le temps et dans l’espace … Ces sosies sont’en chair et en os, voire en pantalon et paletot, en crinoline et en chignon« ist zu den Sept vieillards heranzuziehen:
»Que celui-là qui rit de mon inquiétude,
Et qui n’est pas saisi d’un frisson fraternel,
Songe bien que malgré tant de décrépitude
Ces sept monstres hideux avaient l’air éternel!
Aurais-je, sans mourir, contemplé le huitième,
Sosie inexorable, ironique et fatal,
Dégoûtant Phénix, fils et père de lui-même?
– Mais je tournai le dos au cortége infernal.«
»Les maisons, dont la brume allongeait la hauteur,
Simulaient les deux quais d’une rivière accrue«
ein meryonsches Bild. Ein ähnliches bei Brecht. [J 76, 4]
Mit düsterer Ironie bringt Blanqui zur Geltung, was es mit einer »bessern Menschheit« in einer unverbesserlichen Natur auf sich haben könnte. [J 76, 5]
Lamartines Christ industriel taucht am Ende des Jahrhunderts wieder auf. So bei Verhaeren, in Le Départ:
»Et qu’importent les maux et les heures démentes
Et les cuves de vice où la cité fermente
Si quelque jour, du fond des brouillards et des voiles
Surgit un nouveau Christ, en lumière sculpté
Qui soulève vers lui l’humanité
Et la baptise au feu de nouvelles étoiles,«
In dem geschichtlichen Prozeß, den das Proletariat der Bürgerklasse macht, ist Baudelaire ein Zeuge, Blanqui aber ein Sachverständiger. [J 76 a, 1]
Wenn Baudelaire vor das Tribunal der Geschichte zitiert wird, so muß er sich manche Unterbrechung gefallen lassen; ein Interesse, ihm vielfach fremd und ihm vielfach undurchschaubar, bestimmt dessen Fragestellung. Die Sache dagegen zu welcher sich Blanqui äußert, hat er zu der seinen von jeher gemacht. Darum erscheint er als Sachverständiger, wo sie verhandelt wird. Es ist mithin nicht ganz im gleichen Sinn, in dem Baudelaire und Blanqui vor das Tribunal der Geschichte zitiert werden, (vgl N 11, 3) [J 76 a, 2]
Preisgabe des epischen Moments: ein Tribunal ist keine Spinnstube. Oder besser: die Verhandlung wird angestellt, nicht berichtet. [J 76 a, 3]
Das Interesse das der materialistische Historiker am Gewesnen nimmt, ist an einem Teil stets ein brennendes Interesse an dessen Verflossensein, an seinem Aufgehörthaben und gründlich Totsein. Dessen im Großen und fürs Ganze versichert zu sein, ist für jede Zitierung (Belebung) von Teilen dieses Phänomens die unerläßliche Voraussetzung. Mit einem Wort: zu dem bestimmten historischen Interesse, über dessen Recht sich auszuweisen das Eigenste des materialistischen Geschichtsschreibers ist, gehört der geglückte Nachweis, es mit einem Gegenstande zu tun zu haben, der im ganzen wirklich und unwiderruflich »der Geschichte angehört«. [J 76 a, 4]
Der Dante-Vergleich kann als Exempel sowohl für die Ratlosigkeit der frühen Rezeption Baudelaires gelten, wie auch als Illustration für De Maistres Wort, daß die ersten Urteile über einen Autor sich durch die weitere Literatur forterben. [J 76 a, 5]
Neben dem Dantevergleich gibt bei der Rezeption der Begriff der décadence das Stichwort ab. Er findet sich bei 〈Barbey〉 d’Aurevilly, Pontmartin, Brunetière, Bourget. [J 76 a, 6]
Für den materialistischen Dialektiker ist die Diskontinuität die regulative Idee der Tradition von den herrschenden Klassen (also in erster Linie von der Bourgeoisie), die Kontinuität die regulative Idee der Tradition von den Unterdrückten (also in erster Linie vom Proletariat). Das Proletariat lebt langsamer als die Bürgerklasse. Die Beispiele seiner Kämpfer, die Erkenntnisse seiner Führer veralten nicht. Sie veralten jedenfalls sehr viel langsamer als die Epochen und die großen Figuren der Bürgerklasse. Die Wellen der Mode brechen sich an der kompakten Masse der Unterdrückten. Dagegen haben die Bewegungen der herrschenden Klasse nachdem sie einmal zu ihrer Herrschaft gelangt ist, einen modischen Einschlag an sich. Insbesondere sind die Ideologien der Herrschenden ihrer Natur nach wandelbarer als die Ideen der Unterdrückten. Denn sie haben sich nicht nur, wie die Ideen der letztern, der jeweiligen gesellschaftlichen Kampfsituation anzupassen sondern sie als eine im Grunde harmonische Situation zu verklären. Bei diesem Geschäft muß exzentrisch und sprunghaft verfahren werden. Es ist im vollsten Sinne des Wortes ein modisches. »Rettungen« an den großen Figuren des Bürgertums vollziehen, heißt nicht zum wenigsten, sie in diesem hinfälligsten Teil ihres Wirkens begriffen haben, und eben aus ihm das herauszureißen, das zu zitieren, was unscheinbar unter ihm begraben blieb, weil es den Mächtigen nur sehr wenig half. Baudelaire und Blanqui konfrontieren, heißt den Scheffel von seinem Licht wegheben. [J 77, 1]
Man kann die Rezeption Baudelaires durch die Dichter leicht von der durch die Theoretiker unterscheiden. Die letztern halten sich an den Vergleich mit Dante und an den Begriff der décadence, die erstem an die Parole des l’art pour l’art und an die Theorie der correspondances. [J 77, 2]
Faguet sieht das Geheimnis der Wirkung von Baudelaire in der so weit verbreiteten Nervosität. (Wo?) [J 77, 3]
Die démarche saccadé des Lumpensammlers braucht nicht unterm Einfluß des Alkohols zu stehen; er muß ja alle Augenblicke innehalten, um den Abfall aufzulesen den er 〈in〉 seine Kiepe wirft. [J 77, 4]
Für Blanqui ist die Geschichte Häcksel, mit dem die unendliche Zeit ausgestopft wird. [J 77 a, 1]
»Ich stehe still, ich bin auf einmal müde. Voran, scheint es, geht es abwärts, blitzschnell, ringsum Abgrund – ich mag nicht hinsehen.« Nietzsche〈: Werke Groß- und Kleinoktavausgabe〉 XII p 223 (cit Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen Berlin 1935 p 33) [J 77 a, 2]
Der Heros, der sich auf der Szene der modernité behauptet, ist in der Tat vor allem acteur. So erscheint er deutlich in den sept vieillards in einem »décor semblable à l’âme de l’acteur« »raidissant« ses »nerfs comme un héros«. [J 77 a, 3]
Die Figur des Dichters in Bénédiction ist eine Jugendstilfigur. Der Dichter erscheint sozusagen nackt. Er zeigt die Physiognomie von Joseph Delorme. [J 77 a, 4]
Die bonté naturelle, die Magnin (J 50 a, 4) an Sainte-Beuve rühmt, kurz seine Gemütlichkeit, ist das Komplement des sakralen Gestus von Joseph Delorme. [J 77 a, 5]
Man kann auf den Bildern erkennen, daß Baudelaires Physiognomie sehr früh die Züge des Alters angenommen hat. Nicht zuletzt dies begründet die Ähnlichkeit, die man so oft zwischen seinem Ausdruck und dem von Prälaten gefunden hat. [J 77 a, 6]
Vallès ist vielleicht der erste gewesen, der sich nachhaltig (wie später Souday) über die »Rückständigkeit« von Baudelaire beschwert hat. (J 21. 5) [J 77 a, 7]
Die Allegorie kennt viele Rätsel aber kein Geheimnis. Das Rätsel ist ein Bruchstück, welches mit einem andern Bruckstück, das zu ihm paßt, ein Ganzes macht. Das Geheimnis sprach man seit jeher im Bilde des Schleiers an, der ein alter Komplize der Ferne ist. Die Ferne erscheint verschleiert. Im Gegensatz zur Renaissancemalerei zum Beispiel hielt es die barocke ganz und gar nicht mit diesem Schleier. Sie reißt ihn vielmehr ostentativ auf und rückt, wie besonders ihre Deckenmalerei zeigt, selbst die himmlische Ferne in eine Nahe, die überraschen und bestürzen soll. Das spricht dafür, daß das Ausmaß auratischer Sättigung der menschlichen Wahrnehmung im Laufe der Geschichte Schwankungen unterworfen gewesen ist. (Im Barock, so könnte man sagen, hat sich der Widerstreit zwischen Kultwert und Ausstellungswert vielfach innerhalb der Grenzen sakraler Kunst abgespielt.) So sehr diese Schwankungen der Aufklärung bedürfen mögen – die Vermutung liegt nahe, daß Zeitalter, die zu allegorischem Ausdruck neigen, eine Krisis der Aura erfahren haben. [J 77 a, 8]
Baudelaire erwähnt unter den »sujets lyriques proposés par l’Académie« »l’Algérie ou la civilisation conquérante«. Ch B: Œuvres II p 593 (L’esprit de M Villemain) Entweihung der Ferne [J 78, 1]
Zum abîme »profondeur de l’espace, allégorie de la profondeur du temps«. Ch B: Œuvres I p 306 (Les paradis artificiels IV l’homme-dieu) [J 78, 2]
Allegorische Zerstückelung. Die Musik, die einer unter dem Einfluß von Haschisch hört, erscheint bei Baudelaire als »le poëme entier entrant dans votre cerveau comme un dictionnaire doué de vie«. Ch B: Œuvres I p 307 [J 78, 3]
Im Barock wird ein bisher beiläufiger Teil der Allegorie, das Emblem, ausschweifend entwickelt. Während der mittelalterliche Ursprung der Allegorie für den materialistischen Historiker der Aufhellung noch bedarf, findet sich für das Verständnis ihrer barocken Form ein Fingerzeig bei Marx selbst. Es heißt im Kapital (Hamburg 1922 I p 344): »Die kombinirte Arbeitsmaschine … ist um so vollkommner, je kontinuirlicher ihr Gesammtprocess, d. h. mit je weniger Unterbrechung das Rohmaterial von seiner ersten Phase zu seiner letzten übergeht, je mehr also statt der Menschenhand der Mechanismus selbst es von einer Produktionsphase in die andre fördert. Wenn in der Manufaktur die Isolirung der Sonderprocesse ein durch die Theilung der Arbeit selbst gegebnes Princip ist, so herrscht dagegen in der entwickelten Fabrik die Kontinuität der Sonderprocesse.« Hier dürfte der Schlüssel für das barocke Verfahren liegen, dem Stückwerk, den Teilen, in die nicht sowohl das Ganze als der Prozeß seiner Produktion zerfällt wurde, die Bedeutungen zuzuordnen. Die barocken Embleme lassen sich als Halbfabrikate auffassen, die aus Etappen eines Produktionsprozesses zu Denkmälern eines Destruktionsprozesses geworden sind. Die »Unterbrechung«, die nach Marx die einzelnen Stadien dieses Arbeitsprozesses kennzeichnet, konnte sich im Zeitalter des dreißigjährigen Krieges, der bald da bald dort die Produktion stillegte, unabsehbar lange ausdehnen. Der eigentliche Triumph der barocken Emblematik, deren wichtigstes Versatzstück der Totenkopf ist, bestand aber darin, den Menschen selber in diesen Vorgang einzubegreifen. Der Totenkopf der barocken Allegorie ist ein Halbfabrikat des heilsgeschichtlichen Prozesses, der von dem Satan, soweit es ihm gegeben ist, unterbrochen wird. [J 78, 4]
Der ökonomische Ruin von Baudelaire ist die Folge eines donquichotesken Kampfes gegen die Umstände gewesen, die zu seiner Zeit den Konsum bestimmten. Der einzelne Konsument, der dem Handwerker gegenüber als Auftraggeber erscheint, figuriert auf dem Markt als Käufer. Dort trägt er das Seine zur Lichtung eines Lagers von Waren bei, auf deren Produktion seine Sonderwünsche keinen Einfluß hatten. Baudelaire wollte solche Sonderwünsche nicht nur in seiner Kleidung zur Geltung bringen – die Konfektion hat von allen Branchen am längsten mit dem einzelnen Konsumenten als Auftraggeber zu rechnen – er dehnte sie auf sein Mobiliar und andere Gegenstände seines täglichen Gebrauchs aus. So geriet er in Abhängigkeit von einem wenig rechtlichen Antiquitätenhändler, der ihm altes Mobiliar und Bilder heranschaffte, die später teilweise als unecht erkannt worden sind. Die Schulden, die er bei diesem Handel einging, haben für den Rest seines Lebens auf ihm gelastet. [J 78 a, 1]
Zuletzt ist das Bild der erstarrten Unruhe, das die Allegorie stellt, ein geschichtliches. Es zeigt die plötzlich in ihrem Widerstreit stillgestellten, mitten im unausgetragnen Kampfe versteinerten Gewalten der Antike und des Christentums. In seinem Gedicht an die kranke Muse hat Baudelaire in vollendeten Versen, die nichts von der chimärischen Natur seines Wunsches verraten, als Idealbild der Gesundheit der Muse eben das festgehalten, was eine Formel für ihre Verstörtheit ist: »Je voudrais … | … que ton sang chrétien coulât à flots rhythmiques | Comme les sons nombreux des syllabes antiques.« [J 78 a, 2]
Bei Baudelaire kommt, unbeschadet einer an sich neuen und originalen Signatur, die die Allegorie in seiner Dichtung hat, die gründende mittelalterliche Schicht unter der barocken zur Geltung. Diese besteht in dem von Bezold so genannten »Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus«. Die Allegorie ist die gangbare Form dieses Fortlebens. [J 79, 1]
Im Augenblick, da der Produktionsprozeß sich den Leuten entzieht, erschließt sich ihnen das Lager – im Warenhaus. [J 79, 2]
Zur Theorie des dandysme. Die Konfektion ist die letzte Branche, in der der Kunde noch individuell behandelt wird. Geschichte von den 12 Fräcken. Die Rolle des Auftraggebers wird mehr und mehr eine heroische. [J 79, 3]
Sofern der Flaneur sich auf dem Markt ausstellt, bildet seine Flânerie die Fluktuationen der Ware nach. Grandville hat in seinen Zeichnungen oft und oft Abenteuer der promenierenden Ware festgehalten. [J 79, 4]
Zu »brisés par leurs travaux« – bei den Saintsimonisten erscheint die Industriearbeit im Lichte des Geschlechtsakts; die Idee der Arbeitsfreude ist nach dem Bilde der Zeugungslust konzipiert. Zwei Jahrzehnte später hat das Verhältnis sich umgekehrt: der Geschlechtsakt selber steht im Zeichen der Freudlosigkeit, die den Industriearbeiter zu Boden drückt. [J 79, 5]
Es wäre ein Irrtum, die Erfahrung, die in den correspondances beschlossen liegt, als planes Gegenstück zu gewissen Experimenten zu denken, die man mit der Synaesthesie (dem Farbenhören oder Tonsehen) in psychologischen Laboratorien angestellt hat. Bei Baudelaire handelt es sich weniger um die bekannten Reaktionen, aus denen die schöngeistige oder snobistische Kunstkritik soviel Wesens gemacht hat als um das Medium, in dem solche Reaktionen erfolgen. Dieses Medium ist die Erinnerung und sie war bei ihm von ungewöhnlicher Dichtigkeit. Die korrespondierenden Sinnesdaten korrespondieren in ihr; sie sind geschwängert mit Erinnerungen, die so dicht heranfluten, daß sie nicht aus diesem Leben sondern aus einer geräumigem vie antérieure herzustammen scheinen. Auf dieses Leben spielen die regards familiers an, mit der solche Erfahrungen den Betroffnen ansehen. [J 79, 6]
Was den Grübler vom Denker grundsätzlich unterscheidet ist, daß er nicht einer Sache allein sondern seinem Sinnen über sie nachsinnt. Der Fall des Grüblers ist der des Mannes, der die Lösung des großen Problems schon gehabt, sie sodann aber vergessen hat. Und nun grübelt er, nicht sowohl über die Sache als über sein vergangnes Nachsinnen über sie. Das Denken des Grüblers steht also im Zeichen der Erinnerung. Grübler und Allegoriker sind aus einem Holz. [J 79 a, 1]
»Wenn die parlamentarische Ordnungspartei … im Kampfe gegen die anderen Klassen der Gesellschaft alle Bedingungen ihres eigenen Regimes, des parlamentarischen Regimes, mit eigener Hand vernichtete; so forderte dagegen die außerparlamentarische Masse der Bourgeoisie … durch die brutale Mißhandlung der eigenen Presse Bonaparte auf, ihren sprechenden und schreibenden Teil, ihre Politiker und ihre Literaten … zu vernichten, damit sie nun vertrauensvoll unter dem Schutze einer starken und uneingeschränkten Regierung ihren Privatgeschäften nachgehen könne.« Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte ed Rjazanov Wien Berlin 〈1927〉 p 100 [J 79 a, 2]
Baudelaire steht im literarischen Betrieb seiner Zeit ganz ebenso isoliert wie Blanqui im konspirativen. [J 79 a, 3]
Mit der Zunahme der Auslagen und insbesondere der magasins de nouveauté〈s〉 trat die Physiognomie der Ware immer schärfer hervor. Freilich hätte Baudelaire, unbeschadet seiner sensitiven Empfänglichkeit, dieses Ereignis nie registriert, wäre es ihm nicht wie ein Magnet über das riche métal de notre volonté, über die Erzvorkommen seiner Phantasie hingestrichen. Ihr Leitbild, die Allegorie entsprach in der Tat in vollendeter Weise dem Warenfetisch. [J 79 a, 4]
Der Gestus des modernen Heros: vorgebildet am Lumpensammler: sein pas saccadé, die notwendige Isolierung, in der er sein Geschäft betreibt, das Interesse, das er am Abfall und am Auswurf der Großstadt nimmt, (vgl Baudelaire, De l’héroïsme de la vie moderne II p 135 »Le spectacle de la vie …〈«〉) [J 79 a, 5]