[Baudelaire: Marquis de Sade ...]
Die Aufdeckung der mechanischen Ansichten des Organismus ist eine beharrliche Tendenz des Sadisten. Man kann sagen, der Sadist gehe darauf aus, dem menschlichen Organismus das Bild der Maschinerie unterzuschieben. Sade ist das Kind einer Epoche, die ihr Entzücken an Automaten fand. Und Lamettries »homme machine« rief die Guillotine herbei, die auf seine Wahrheiten eine rudimentäre Probe machte. In seinen blutrünstigen Phantasien i〈st〉 Baudelaires staatspolitische Autorität, De Maistre, ein naher Verwandter des Marquis de Sade. [J 80, 1]
Die Erinnerung des Grüblers verfügt über die ungeordnete Masse des toten Wissens. Ihr ist das menschliche Wissen Stückwerk in einem besonders prägnanten Sinn: nämlich wie der Haufen willkürlich geschnittener Stücke, aus denen man ein puzzle zusammensetzt. Ein Zeitalter, das der Grübelei abhold ist, hat im puzzle deren Geberde festgehalten. Sie ist im besonderen die des Allegorikers. Der Allegoriker greift bald da bald dort aus dem wüsten Fundus, den sein Wissen ihm zur Verfügung stellt, ein Stück heraus, hält es neben ein anderes und versucht, ob sie zu einander passen: jene Bedeutung zu diesem Bild oder dieses Bild zu jener Bedeutung. Vorhersagen läßt das Ergebnis sich nie; denn es gibt keine natürliche Vermittelung zwischen den beiden. Ebenso aber steht es mit Ware und Preis. Die »metaphysischen Spitzfindigkeiten«, in denen sie sich nach Marx gefällt, sind vor allem die Spitzfindigkeiten der Preisgestaltung. Wie die Ware zum Preis kommt, das läßt sich nie ganz absehen, weder im Lauf ihrer Herstellung noch später wenn sie sich auf dem Markt befindet. Ganz ebenso ergeht es dem Gegenstand in seiner allegorischen Existenz. Es ist ihm nicht an der Wiege gesungen worden, zu welcher Bedeutung der Tiefsinn des Allegorikers ihn befördern wird. Hat er aber solche Bedeutung einmal erhalten, so kann sie ihm jederzeit gegen eine andere Bedeutung entzogen werden. Die Moden der Bedeutungen wechselten fast so schnell wie der Preis für die Waren wechselt. In der Tat heißt die Bedeutung der Ware: Preis; eine andere hat sie, als Ware, nicht. Darum ist der Allegoriker mit der Ware in seinem Element. Als flaneur hat er in die Warenseele sich eingefühlt; als Allegoriker erkennt er im »Preisetikett«, mit dem die Ware den Markt betritt, den Gegenstand seiner Grübelei – die Bedeutung – wieder. Die Welt, in der diese neueste Bedeutung ihn heimisch macht, ist keine freundlichere geworden. Eine Hölle tobt in der Warenseele, die doch scheinbar ihren Frieden im Preise hat. [J 80, 2/J 80 a, 1]
Zum Fet〈i〉schismus. »Es mag sein, daß unter dem Sinnbild des Steins nur die augenfälligste Gestalt des kalten, trocknen Erdreichs zu sehen ist. Aber denkbar ist es sehr wohl, ja … nicht unwahrscheinlich, daß mit der trägen Masse auf den eigentlich theologischen Begriff des Melancholikers angespielt ist, der in dem einer Todsünde vorliegt. Das ist die acedia.« (Walter Benjamin:) Ursprung des deutschen Trauerspiels 〈Berlin 1928〉 p 151 [J 80 a, 2]
Zur »Ausbeutung der Natur« (J 75, 2): Nicht immer ist die Ausbeutung der Natur als das Fundament der menschlichen Arbeit angesehen worden. Es erschien Nietzsche mit Recht bemerkenswert, daß Descartes der erste philosophische Physiker war, der die »Entdeckungen eines Gelehrten mit einer Folge von Schlachten verglich, die man gegen die Natur liefert«, cit Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen Berlin 1935 p 121 (〈Nietzsche: Werke Groß- und Kleinoktavausgabe〉 XIII, 55) [J 80 a, 3]
Nietzsche nennt Heraklit »ein Gestirn ohne Atmosphäre«, cit Löwith: Nietzsches Philosophie p 110 (X, 45f) [J 80 a, 4]
Die große physiognomische Ähnlichkeit von Guys und Nietzsche ist zu betonen. Nietzsche spricht dem indischen Pessimismus »jene ungeheure, sehnsüchtige Starrheit des Blicks, in welchem das Nichts sich spiegelt« zu (Löwith: Nietzsches Philosophie p 108 – XV, 162). Dazu ist zu vergleichen, wie Baudelaire den Blick der orientalischen Hure bei Guys (J 47, 4) kennzeichnet: er ist auf den Horizont gerichtet; starre Aufmerksamkeit und tiefes Desorientiertsein durchdringen sich in ihm. [J 80 a, 5]
Zum Selbstmord als Signatur der Moderne. »Man kann das Christentum nicht genug verurteilen, weil es den Wert einer … reinigenden großen Nihilismus-Bewegung, wie sie vielleicht im Gange war, … entwertet hat: … immer durch ein Abhalten von der Tat des Nihilismus, dem Selbstmord.« cit Löwith: Nietzsches Philosophie p 108 (〈XV, 325 u. 186〉) [J 81, 1]
Zum Abgrund und zu »J’ai peur du sommeil comme on a peur d’un grand trou« (le Gouffre) Nietzsche: »Kennt ihr den Schrecken des Einschlafenden? – Bis in die Zehen hinein erschrickt er, darob, daß ihm der Boden weicht und der Traum beginnt.« 〈Nietzsche:〉 Zarathustra ed Kröner Lpz p 215 [J 81, 2]
Vergleich der riche toison mit der »Nuit sans étoiles, Nuit obscure!« Schlußzeile von Les promesses d’un visage. [J 81, 3]
Das Spezifische der Boulevardpresse ist später die Börseninformation. Die petite presse bereitet durch die Rolle, die sie dem Stadtklatsch gibt, diese Börseninformation vor. [J 81, 4]
Wie dem flaneur die Massen, so verstellen dem conspirateur seine Mitverschworenen die Wirklichkeit. [J 81, 5]
Zur Bilderflucht in der Allegorie. Sie hat Baudelaire oft um einen Teil des Ertrages seiner allegorischen Bilder betrogen. Eines insbesondere fällt bei Baudelaires Gebrauch der Allegorie aus. Man erkennt das, wenn man Shelleys großartige Allegorie auf London vergegenwärtigt: den dritten Gesang von Peter Bell the Third, in dem London dem Leser als Hölle vorgestellt wird. Die durchschlagende Wirkung dieses Gedichts rührt zum großen Teil daher, daß Shelleys Griff nach der Allegorie spürbar ist. Dieser Griff fällt bei Baudelaire aus. Gerade dieser Griff, der die Distanz des modernen Dichters von der Allegorie fühlbar macht, erlaubt es, ihr die unmittelbarsten Realitäten einzuverleiben. Mit welcher Direktheit das geschehen kann, davon gibt das Gedicht von Shelley den besten Begriff. Gerichtsvollzieher〈,〉 Parlamentarier, Börsenspekulanten und viele andere Typen figurieren in ihm. Die in ihrem antiquarischen Charakter betonte Allegorie gibt ihnen einen festen Halt, wie ihn zum Beispiel die hommes d’affaires in Baudelaires »Crépuscule du Matin« nicht haben. – Shelley beherrscht die Allegorie, Baudelaire wird von ihr beherrscht. [J 81, 6]
Die Individualität als solche bekommt, je beherrschender die Masse ins Blickfeld tritt, einen heroischen Kontur. Das ist der Ursprung der Konzeption des héros bei Baudelaire. Hugo geht es nicht um das isolierte Individuum als solches sondern um den demokratischen citoyen. Das bedingt einen fundamentalen Gegensatz zwischen den beiden Dichtern. Die Auflösung dieses Gegensatzes hätte zur Vorbedingung die Zerstreuung des Scheins, den er reflektiert. Dieser Schein geht von dem Begriff der Masse aus. Die Masse als solche hat abgesehen von den verschiednen Klassen, die sie zusammensetzen, keine primäre gesellschaftliche Bedeutung. Ihre sekundäre hängt von den Verhältnissen ab, durch die sie sich jeweils von Fall zu Fall erst zusammenfindet. Das Publikum eines Theaters〈,〉 eine Armee, die Einwohnerschaft einer Stadt 〈bilden〉 Massen die als solche nicht einer bestimmten Klasse zugehören. Der freie Markt vermehrt diese Massen rapid und in unübersehbarer Menge, indem nunmehr jede Ware die Masse ihrer Abnehmer um sich sammelt. Die totalitären Staaten haben diese Masse zu ihrem Modell genommen. Die Volksgemeinschaft sucht alles aus den einzelnen Individuen auszutreiben, was ihrer restlosen Einschmelzung in eine Kundenmasse im Wege steht. Den einzig unversöhnlichen Gegner hat der Staat, der in diesem heißen Bemühen den Agenten des Monopolkapital〈s〉 darstellt, dabei an dem revolutionären Proletariat. Dieses zerstreut den Schein der Masse durch die Realität der Klasse. Weder Hugo noch Baudelaire können ihm darin direkt zur Seite stehen. [J 81 a, 1]
Zur Eröffnung der héroïne: die Antike von Baudelaire ist die römische. Nur an einer einzigen Stelle ragt die griechische Antike in seine Welt hinein. Die ist allerdings eine unersetzliche. Griechenland stellt ihm dasjenige Bild von der Heroïne, welches ihm würdig und fähig schien, in die Moderne übertragen zu werden. Griechische Namen betiteln 〈?〉 eines seiner größten Gedichte: »Delphine et Hippolyte〈«〉. Die lesbische 〈Liebende prägte〉 ja die Züge der Heroine〈.〉 [J 81 a, 2]
»Ainsi la pensée du poëte, après avoir suivi de capricieux méandres, débouche sur les vastes perspectives du passé ou de l’avenir; mais ces ciels sont trop vastes pour être généralement purs, et la température du climat trop chaude pour n’y pas amasser des orages. Le promeneur, en contemplant ces étendues voilées de deuil, sent monter à ses yeux les pleurs de l’hystérie, hysterical tears.« Ch B II p 536 (Marceline Desbordes-Valmore) [J 82, 1]
Zum vin des chiffonniers: die Rede von den mouchards deutet darauf hin, daß der chiffonnier vom Barrikadenkampfe zu kommen träumt. [J 82, 2]
»Ville. Je suis en éphémère et point trop mécontent citoyen d’une métropole crue moderne, parce que tout goût connu a été éludé dans les ameublements et l’extérieur des maisons aussi bien que dans le plan de la ville. Ici vous ne signaleriez les traces d’aucun monument de superstition. La morale et la langue sont réduites à leur plus simple expression, enfin! Ces millions de gens qui n’ont pas besoin de se connaître amènent si pareillement l’éducation, le métier et la vieillesse, que ce cours de vie doit être plusieurs fois moins long que ce qu’une statistique folle trouve pour les peuples du Continent.« Arthur Rimbaud: Œuvres Paris 1924 p 229/30 (Les illuminations) Entzauberung der »Moderne«! [J 82, 3]
»Les criminels dégoûtent comme des châtrés.« Arthur Rimbaud: Œuvres Paris 1924 p 258 (Une saison en enfer – Mauvais sang) [J 82, 4]
An Baudelaire könnte man versuchen anschaulich zu machen, daß der Jugendstil aus Müdigkeit kommt – einer Müdigkeit, die bei ihm als die des abgeschminkten Mimen an den Tag tritt. [J 82, 5]
Die Moderne ist an diesem Werk, was das Warenzeichen an einem Besteck oder an einem optischen Instrument. Es mag so haltbar sein wie es will; ist die Firma, von der es stammt, einmal eingegangen, so wirkt es veraltet. Ein Warenzeichen ihm einzudrücken, war aber Baudelaires eingeständliche Absicht mit seinem Werk. »Créer un poncif«, so lautete sein Vorsatz. Und vielleicht gibt es für Baudelaire keinen höhern Ruhm als mit seinem Werk diesen Tatbestand, einen der profansten der Warenwirtschaft, nachgeahmt, nachgemacht zu haben. Vielleicht ist dies Baudelaires größte, und bestimmt ist es seine bewußte Leistung – so schnell veraltet zu sein bei so großer Haltbarkeit. [J 82, 6/J 82 a, 1]
Die Tätigkeit der Verschwörer kann als eine Art des dépaysements gelten, wie die Monotonie und der Terror des second empire sie auch sonst erzeugen. [J 82 a, 2]
Die physiologies waren die erste Beute, die der flaneur vom Markt heimbrachte. Er ging gleichsam auf dem Asphalt botanisieren. [J 82 a, 3]
Die Moderne hat die Antike wie einen Alb, der im Schlaf über sie gekommen ist. [J 82 a, 4]
England war bis tief ins vorige Jahrhundert hinein die hohe Schule gesellschaftlicher Erkenntnis geblieben. Barbier hatte von dort den Gedichtzyklus »Lazare«, Gavarni die Folge »Was man in London gratis sieht« und den Thomas Vireloque, die Figur des hoffnungslos Verelendeten mitgebracht. [J 82 a, 5]
»Entre Auguste à l’œil calme et Trajan au front pur,
Victor Hugo: Les Châtiments ed Charpentier Paris p 107 (Apothéose) [J 82 a, 6]
Resplendit, immobile en l’éternel azur,
Sur vous, ô panthéons, sur vous, ô propylées,
Robert Macaire avec ses bottes éculées!«
»Il a contre lui … le titre de Fleurs du mal, qui est un titre faux, fâcheusement anecdotique et qui particularise à l’excès l’universalité de son essor.« Henry Bataille: Baudelaire (Comoedia 7 janvier 1921) [J 82 a, 7]
Zu »la rue assourdissante« und verwandten Formulierungen ist nicht zu vergessen, daß der Belag des Fahrdamms in jener Zeit wohl zumeist ein Kopfsteinpflaster gewesen ist. [J 82 a, 8]
Nisard im Vorwort zur ersten Ausgabe der poëtes latins de la décadence (1834): »Je tâche d’expliquer par quelles nécessités … l’esprit humain arrive à ce singulier état d’épuisement, où les imaginations les plus riches ne peuvent plus rien pour la vraie poésie, et n’ont plus que la force de détruire avec scandale les langues … Enfin, je touche aux ressemblances qui existent entre la poésie de notre temps et celle du temps de Lucain … Dans un pays où la littérature gouverne les esprits, même la politique … donne … une voix à tous les progrès … la critique … est … un devoir à la fois littéraire et moral.« D Nisard: Etudes de mœurs et de critique sur les poètes latins de la décadence Paris 1849 I p X et XIV [J 83, 1]
Über das Frauenideal – »macabre de maigreur« – von Baudelaire: »Mais c’est essentiellement la femme moderne çà, la femme française de la période qui précéda l’invention des bicyclettes.« Pierre Caume: Causeries sur Baudelaire (La nouvelle revue Paris 1899 tome 119 p 669) [J 83, 2]
Nisard denunziert als Zeichen der décadence bei Phädrus »un emploi affecté et continuel de l’abstrait pour le concret … Ainsi, au lieu de long cou, il dit la longueur du cou colli longitudo.« D Nisard: Etudes de mœurs et de critique sur les poëtes latins de la décadence Paris 1849 I p 45 [J 83, 3]
Zur Frage der dénatalité und der Unfruchtbarkeit: »Il n’y a pas d’anticipation optimiste sur l’avenir, ni d’élan, s’il n’y a pas d’idée directrice, s’il n’y a pas de but.« Jules Romains: Cela dépend de vous Paris 〈1939〉 p 104 [J 83, 4]
Zu »au fond de l’inconnu« vergleiche die großartige Stelle über das connu bei Turgot: »Je n’admire pas Colomb pour avoir dit: ›la terre est ronde, donc en avançant à l’Occident, je rencontrerai la terres‹, quoique les choses les plus simples soient souvent les plus difficiles à trouver. – Mais ce qui caractérise une âme forte, est la confiance avec laquelle il s’abandonne à une mer inconnue sur la foi d’un raisonnement. Quel devait être le génie et l’enthousiasme de la vérité chez un homme à qui une vérité connue donnait tant de courage!« Turgot: Œuvres II Paris 1844 p 675 (Pensées et Fragments) [J 83, 5]
Verlumptheit ist eine spezifische Form der Armut; keineswegs ihr bloßer Superlativ. Es »nimmt … Armuth den eigenthümlichen Charakter der Verlumptheit an, wo sie in der Mitte einer Gesellschaft auftritt, deren Leben auf ein sehr verwickeltes und reich gegliedertes Ganze der Bedürfnißbefriedigung begründet ist. Indem die Armuth diesem Ganzen einzelne Bruchstücke ohne Zusammenhang entlehnt, macht sie sich abhängig von Bedürfnissen, für welche ihr eine … dauernde und anständige Abhilfe unmöglich ist.« Hermann Lotze: Mikrokosmos III Lpz 1864 p 271/ 272 [J 83 a, 1]
Lotzes Betrachtung über den Arbeiter, der nicht mehr das Werkzeug handhabt, sondern die Maschine bedient, ist geeignet, Licht auf das Verhalten des Konsumenten zu dem derart entstandnen Warenprodukt zu werfen. »An den fertigen Erzeugnissen konnte er noch in jedem Umriß ihrer Gestalt die Kraft und Feinheit der arbeitenden Bewegung wiedererkennen, die er hineingelegt hatte. Die Theilnahme des Menschen an der Maschinenarbeit beschränkt sich dagegen auf … Handanlegungen, die unmittelbar Nichts gestalten, sondern nur einem unbegriffenen Mechanismus eine unverstandene Gelegenheit zu unsichtbaren Leistungen geben.« Hermann Lotze: Mikrokosmos III Lpz 1864 p 272/3 [J 83 a, 2]
Die Allegorie als das Zeichen, das gegen seine Bedeutung scharf abgesetzt ist, hat in der Kunst seinen Ort als der Widerpart des schönen Scheins, in welchem Bedeutendes und Bedeutetes ineinanderfließen. Fällt diese Sprödigkeit der Allegorie dahin, so geht sie ihrer Autorität verlustig. Das ist im Genre der Fall. Es bringt »Leben« in die Allegorien, die nun plötzlich wie Blumen welken werden. Sternberger hat diesen Sachverhalt angeschlagen (Panorama 〈Hamburg 1938〉 p 66): »die scheinlebendig gewordne Allegorie, die ihre Dauer und strenge Geltung hingegeben hat für das Linsengericht« des Lebens〈,〉 erscheint mit Recht als Geschöpf des Genres. Im Jugendstil scheint ein rückläufiger Prozeß einzusetzen. Die Allegorie gewinnt wieder an Sprödigkeit. [J 83 a, 3]
Zu der obigen Bemerkung von Lotze: der Müßiggänger, der Flaneur, der nichts mehr von der Produktion versteht, will zum Sachverständigen des Marktes (der Preise) werden. [J 83 a, 4]
»Die Kapitel ›Verfolgung‹ und ›Mord‹ des ›Poète assassiné‹ bei Apollinaire enthalten die berühmte Schilderung eines Dichter-Pogroms. Die Verlagshäuser werden gestürmt, die Gedichtbücher ins Feuer geworfen, die Dichter erschlagen. Und die gleichen Szenen spielen zu gleicher Zeit auf der ganzen Erde sich ab. Bei Aragon ruft in der Vorahnung solcher Greuel die ›Imagination‹ ihre Mannschaft zu einem letzten Kreuzzuge auf.« Walter Benjamin: Der Sürrealismus (Die literarische Welt V, 7 15 Februar 1929) [J 84, 1]
»Ce n’est point une rencontre fortuite si le siècle qui a été, depuis longtemps, celui du plus fort langage poétique, le XIXe, a été celui d’un progrès décisif dans les sciences.« Jean-Richard Bloch: Langage d’utilité, langage poétique (Encyclopédie française XVI 16-50, 13) Darauf hinweisen, wie die von der Wissenschaft von ihren frühem Positionen abgedrängten Kräfte der poetischen Inspiration genötigt werden, in die Warenwelt vorzustoßen. [J 84, 2]
Zur Frage der Entwicklung der Wissenschaft und der poetischen Sprache, die J-R Bloch behandelt〈,〉 Chéniers »Invention«:»Tous les arts sont unis: les sciences humaines
N’ont pu de leur empire étendre les domaines,
Sans agrandir aussi la carrière des vers.
Quel long travail pour eux a conquis l’univers!
…
Une Cybèle neuve et cent mondes divers,
Aux yeux de nos Jasons sortis du sein des mers:
Quel amas de tableaux, de sublimes images,
Naît de ces grands objets réservés à nos âges!« [J 84, 3]
Zu den sept vieillards. Allein die Tatsache, daß dieses Gedicht isoliert im œuvre von Baudelaire steht, macht die Annahme, daß es eine Schlüsselstellung darinnen inne hat, nicht so unwahrscheinlich. Wenn diese bisher unbekannt geblieben ist, so mag das damit zusammenhängen, daß auch der rein philologische Kommentar an ihm versagt hat. Und doch ist der einschlägige Tatbestand nicht so fernliegend. Das Stück korrespondiert mit einer bestimmten Stelle der paradis artificiels. Diese Stelle aber ist es, die zugleich Aufschluß über seine philosophische Tragweite geben kann. [J 84, 4]
Für die sept vieillards ist die folgende Stelle der Paradis artificiels entscheidend; sie erlaubt es, die Inspiration zu diesem Gedicht auf den Haschisch zurückzuführen: »Le mot rapsodique, qui définit si bien un train de pensées suggéré et commandé par le monde extérieur et le hasard des circonstances, est d’une vérité plus vraie et plus terrible dans le cas du haschisch. Ici, le raisonnement n’est plus qu’une épave à la merci de tous les courants, et le train de pensées est infiniment plus accéléré et plus rapsodique.« I p 303 [J 84 a, 1]
Vergleich zwischen Blanqui und Baudelaire, teils nach Formulierungen von Brecht: Blanquis Niederlage war der Sieg Baudelaires – des Kleinbürgertums. Blanqui ist gefallen, Baudelaire hat gefallen. Blanqui erscheint als tragische Figur; sein Verrat hat tragische Größe; der innere Feind hat ihn besiegt. Baudelaire erscheint als komische Figur: als der Hahn, dessen triumphierendes Krächzen die Stunde des Verrats anzeigt. [J 84 a, 2]
Wenn Napoleon III Cäsar war, dann war Baudelaire die catilinarische Existenz. [J 84 a, 3]
Baudelaire vereint die Armut des Lumpensammlers, den Hohn des Schnorrers, die Verzweiflung des Parasiten. [J 84 a, 4]
Die Bedeutung des Stückes »Perte d’auréole« kann nicht überschätzt werden. Es ist zunächst darin von außerordentlicher Pertinenz, daß es die Bedrohung der Aura durch das Chockerlebnis zur Geltung bringt. (Vielleicht kann dies Verhältnis durch Hinweis auf die der Epilepsie geltenden Metaphern geklärt werden.) Außerordentlich durchschlagend ist weiter der Schluß, der die Schaustellung der Aura weiterhin zu einer Angelegenheit von Poeten fünften Ranges macht. – Endlich ist an diesem Stück wichtig, daß es die Gefährdung des Großstädters durch den Verkehr der Kutschen als stärker darstellt als diese Gefährdung heutzutage, angesichts der Automobile empfunden wird. [J 84 a, 5]
Catilina figuriert bei Baudelaire unter den Dandys. [J 85, 1]
Die Liebe zur Prostituierten ist die Apotheose der Einfühlung in die Ware. [J 85, 2]
»Recueillement« als Jugendstilgedicht darzustellen. Die défuntes années als Allegorien im Stil von Fritz Erler. [J 85, 3]
Der Haß gegen das Genre, der aus Baudelaires »Salons« zu erkennen ist, ist ein echtbürtiger Affekt des Jugendstils. [J 85, 4]
Unter den Legenden, die über Baudelaire umgingen, gab es diese: er habe, den Ganges überquerend, Balzac gelesen. Bei Henri Grappin: Le mysticisme poétique de Gustave Flaubert (Revue de Paris 1 et 15 décembre 1912 p 852) [J 85, 5]
»La vie n’a qu’un charme vrai: c’est le charme du Jeu. Mais s’il nous est indifférent de gagner ou de perdre?« Œuvres complètes II p 630 (Fusées) [J 85, 6]
»Le commerce est, par son essence, satanique … Le commerce est satanique, parce qu’il est une des formes de l’égoïsme, et la plus basse, et la plus vile.« Œuvres complètes II p 664 (Mon cœur) [J 85, 7]
»Qu’est-ce que l’amour? Le besoin de sortir de soi. … Plus l’homme cultive les arts, moins il bande … Foutre, c’est aspirer à entrer dans un autre, et l’artiste ne sort jamais de lui-même.« Œuvres complètes 〈II〉 p 655 et 663 [J 85, 8]
»C’est par le loisir que j’ai, en partie, grandi. A mon grand détriment; car le loisir, sans fortune, augmente les dettes … Mais, à mon grand profit, relativement à la sensibilité, à la méditation et à la faculté du dandysme et du dilettantisme. Les autres hommes de lettres sont, pour la plupart, de vils piocheurs très-ignorants.« Œuvres complètes II p 659 (Mon cœur) [J 85, 9]
»Tout bien vérifié, travailler est moins ennuyeux que s’amuser.« Œuvres complètes II p 647 (Mon cœur) [J 85, 10]
Über Totentänze (vgl K 7 a, 3 Huxleystelle)〈:〉 »Die Holzschnitte, mit denen der Pariser Drucker Guyot Marchant im Jahre 1485 die erste Ausgabe des ›Danse macabre‹ schmückte, waren so gut wie sicher dem berühmtesten aller Totentänze entlehnt, jenem, welcher im Jahre 1424 als Wandmalerei in der Säulenhalle des Friedhofes der Innocents zu Paris angebracht war … Der Leichnam, der vierzigmal wiederkehrt, um den Lebenden zu holen, ist eigentlich noch nicht der Tod, sondern der Tote. Die Verse nennen die Figur Le mort (beim Totentanz der Frauen La morte) … Sie ist auch hier kein Gerippe, sondern ein noch nicht ganz entfleischter Körper mit dem aufgeschlitzten hohlen Bauch. Erst um 1500 wird die Gestalt des großen Tänzers zum Gerippe, wie wir sie bei Holbein kennen.« J Huizinga: Herbst des Mittelalters München 1928 p 204 u 205 [J 85 a, 1]
Zur Allegorie. »Die Gestalten des Rosenromans: Bel-Accueil, Doux-Regard, Faux Semblant, Male Bouche, Danger, Honte, Peur stehen in einer Reihe mit den echt mittelalterlichen Darstellungen der Tugenden und Sünden in menschlicher Gestalt: Allegorien oder etwas mehr als dies, halbgeglaubte Mythologeme.« J Huizinga: Herbst des Mittelalters München 1928 p 162 [J 85 a, 2]
Zu der »Metaphysik des agent provocateur«: »Sans avoir trop de préjugés, on peut être un peu gêné, quand on lit les Mystères galans [Les mystères galans des théâtres de Paris], de penser que Baudelaire y est pour une part. S’il a renié cette besogne d’extrême jeunesse, il y a de fortes raisons de croire, avec M. Crépet, qu’il en est vraiment l’un des auteurs. Voici donc un Baudelaire sur le bord du chantage, haineux de tout succès? Cela donnerait à penser que toute sa vie, de ces Mystères aux Amœnitates Belgicae, le grand poète a eu besoin, de temps à autre, de vider une poche à venin.« Jean Prévost: Besprechung des genannten Werks La Nouvelle Revue Française 1 mai 1939 XXVII, 308 p 888 [J 85 a, 3]
Zu Au lecteur: »Les six premiers livres des Confessions ont … un avantage certain, inhérent à leur sujet même: tout lecteur, dans la mesure où il n’est pas esclave des préjugés littéraires ou mondains, devient un complice.« André Monglond: Le préromantisme français II Le maître des âmes sensibles Grenoble 1930 p 295 [J 86, 1]
In einer bedeutenden Stelle bei De Maistre tritt nicht nur die Allegorie ihrer satanischen Provenienz nach und ganz mit den Augen, mit denen später Baudelaire sie sah, auf, sondern es erscheinen auch – in Anlehnung an die martinistische oder svedenborgsche Mystik – die correspondances. Und zwar bilden sie aufschlußreicher Weise den Widerpart der Allegorie. Die Stelle befindet sich im achten Gespräch der Soirées und heißt: »On peut se former une idée parfaitement juste de l’univers en le voyant sous l’aspect d’un vaste cabinet d’histoire naturelle ébranlé par un tremblement de terre. La porte est ouverte et brisée; il n’y a plus de fenêtres; des armoires entières sont tombées; d’autres pendent encore à des fiches prêtes à se détacher. Des coquillages ont roulé dans la salle des minéraux, et le nid d’un colibri repose sur la tête d’un crocodile. Cependant quel insensé pourrait douter de l’intention primitive, ou croire que l’édifice fut construit dans cet état? … L’ordre est aussi visible qui le désordre; et l’œil, en se promenant dans ce vaste temple de la nature, rétablit sans peine tout ce qu’un agent funeste a brisé, ou faussé, ou souillé, ou déplacé. Il y a plus: regardez de près, et déjà vous reconnaîtrez une main réparatrice. Quelques poutres sont étayées; on a pratiqué des routes au milieu des décombres; et, dans la confusion générale, une foule d’analogues ont déjà repris leur place et se touchent.« [J 86, 2]
Zu Baudelaires Prosodik: Man hat auf sie das ursprünglich Racine zugedachte Wort angewandt »raser la prose, mais avec des ailes«. [J 86, 3]
Zu Baudelaires »Voyage à Cythère«:»Cythère est là, lugubre, épuisée, idiote,
Victor Hugo: Les contemplations/Cérigo [J 86 a, 1]
Tête de mort du rêve amour, et crâne nu
Du plaisir …
…
Plus d’abeilles buvant la rosée et le thym.
Mais toujours le ciel bleu.«
Die Theorie der Poesie als Ausdrucksvermögen – »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt | Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide« – ist bei Lamartine in der »ersten« préface der Méditations von 1849 (die in Wahrheit die zweite ist) mit besonderer Entschiedenheit formuliert. Die »Originalitätshascherei«, geschweige die echte Besinnung auf die originalen Möglichkeiten bewahrt de〈n〉 Dichter, bewahrt zumal Baudelaire, vor einer Poetik des bloßen Ausdrucks. Lamartine formuliert sie so: »Je n’imitais plus personne, je m’exprimais moi-même pour moi-même. Ce n’était pas un art, c’était un soulagement de mon propre cœur … Je ne pensais à personne en écrivant çà et là ces vers, si ce n’est à une ombre et à Dieu.« Les grands écrivains de la France Lamartine II Paris 1915 p 365 [J 86 a, 2]
Zu Laforgues Bemerkung über die comparaisons crues bei Baudelaire (J 9, 4) bemerkt Ruff: »L’originalité de ces comparaisons n’est pas tant dans leur crudité que dans le caractère artificiel, c’est-à-dire humain, des images: cloison, couvercle, coulisse. La ›correspondance‹ est saisie dans le sens inverse de celles que proposent d’ordinaire les poètes, qui nous renvoient à la nature. Baudelaire, par une pente invincible, nous ramène à l’idée humaine. Même sur le plan humain, s’il veut agrandir sa description par une image, il ira souvent la choisir dans une autre manifestation de l’homme, plutôt que de recourir à la Nature:
Les tuyaux, les clochers, ces mâts de la cité.«
Marcel-A Ruff: Sur l’architecture des fleurs du mal (Revue d’histoire littéraire de la France XXXVII, 3 juillet-septembre 1930 p 398) Man vergleiche das montrant du doigt le ciel in der Meryon-Beschreibung. – Dasselbe Motiv, harmlos und ins Psychologische gewandt in Rattiers Bekehrung des flâneurs zur industriellen Tätigkeit. [J 86 a, 3]
In Barbiers Gedicht »Les mineurs de Newcastle« heißt der Schluß der achten Strophe:Et plus d’un qui rêvait dans le fond de son âme
Auguste Barbier: Jambes et Poèmes Paris 1841 p 240/241 – aus dem Buche Lazare, das 1837 datiert ist und die englischen Eindrücke wiedergibt. Zu den zitierten Zeilen vgl. die beiden letzten des Crépuscule du soir. [J 87, 1]
Aux douceurs du logis, à l’œil bleu de sa femme,
Trouve au ventre du gouffre un éternel tombeau.
Berufsverschwörer und dandy kommen im Begriff des modernen Heros zusammen. Dieser Heros stellt für sich in eigner Person eine ganze geheime Gesellschaft vor. [J 87, 2]
Über die Generation von Vallès: »Es ist jene Generation, die unter dem entsternten Himmel des zweiten Kaiserreichs einer … Zukunft ohne Glauben und Größe entgegenwuchs.« Hermann Wendel: Jules Vallès (Die neue Zeit Stuttgart 1912 XXXI, 1 p 105) [J 87, 3]
〈»〉Quand un courtisan … ne sera point paresseux et contemplatif …« La Bruyère [J 87, 4]
Zum »Studium«: »La chair est triste, hélas! et j’ai lu tous les livres.« Mallarmé: Brise marine (Mallarmé: Poésies Paris 1917 p 43) [J 87, 5]
Zum Müßiggang: »Supposez une oisiveté perpétuelle …, avec une haine profonde de cette oisiveté.« (Baudelaire:). Lettre à sa mère samedi 4 décembre 1847 Lettres à sa mère Paris 〈1932〉 p 22 [J 87, 6]
Baudelaire spricht [wo ?] von »l’habitude de laisser faire les années en renvoyant toujours les choses au lendemain«. [J 87, 7]
Der frühe Hochkapitalismus, von Wiesengrund (Brief vom 5 Juni 1935) definiert als »die Moderne im strikten Sinn«. [J 87, 8]