Grundsätze des reinen Verstandes
Grundsätze des reinen Verstandes. In den Grundsätzen des reinen Verstandes kommen die Kategorien (s. d.) zur Anwendung. Die Grundsätze sind die apriorischen Voraussetzungen wissenschaftlicher Erfahrung, sie sind „synthetische Urteile a priori“ (s. d.), haben strenge Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, ihnen muß alles Erfahrbare entsprechen, unter ihrer Leitung nur werden einheitliche Zusammenhänge der Erscheinungen und besondere Naturgesetze erkannt. Sie sind die obersten Gesetze der „Natur“, machen eine solche erst möglich. Durch sie erhalten die Erscheinungen ihre feste Stelle im Zusammenhange der Erfahrung, die das Objektive, Wirkliche, empirisch Reale von allem Schein und bloß Subjektivem unterscheidet; sie regeln auch den Fortgang der Erfahrung, geben diesem die Richtung. Die Form der Erfahrung und der Objekte derselben wird in ihnen antizipiert, prinzipiell vorausbestimmt; sie bestimmen, was als objektive, wahre Erfahrung (nicht bloß subjektives Erlebnis) anzusehen ist.
Der „oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Beziehung auf die Sinnlichkeit“ ist, „daß alles Mannigfaltige derselben unter den formalen Bedingungen des Raums und der Zeit stehe“. Der oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Beziehung auf den Verstand ist der „Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption“ (das „oberste Prinzip alles Verstandesgebrauchs“); ist, „daß alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption stehe“, KrV tr. Anal. § 17 (I 154—Rc 179 f.); vgl. Apperzeption. „Grundsätze a priori“ heißen so, „weil sie die Gründe anderer Urteile in sich enthalten“, und „weil sie selbst nicht in höheren und allgemeineren Erkenntnissen gegründet sind“. Aber das überhebt sie nicht eines Beweises. „Denn obgleich dieser nicht weiter objektiv geführt werden könnte, sondern vielmehr aller Erkenntnis seines Objekts zum Grunde liegt, so hindert dies doch nicht, daß nicht ein Beweis aus den subjektiven Quellen der Möglichkeit einer Erkenntnis des Gegenstandes überhaupt zu schaffen möglich, ja auch nötig wäre, weil der Satz sonst gleichwohl den größten Verdacht einer bloß erschlichenen Behauptung auf sich haben würde.“ Die Grundsätze des reinen Verstandes sind systematisch darzulegen unter Leitung der Kategorientafel. Denn die Kategorien (s. d.) sind es, „deren Beziehung auf mögliche Erfahrung alle reine Verstandeserkenntnis a priori ausmachen muß, und deren Verhältnis zur Sinnlichkeit überhaupt um deswillen alle transzendentalen Grundsätze des Verstandesgebrauchs vollständig und in einem System darlegen wird“. Nicht hierher gehören die Prinzipien der transzendentalen Ästhetik (s. d.), ebenso nicht die mathematischen Grundsätze; doch wird die Möglichkeit derselben, weil sie synthetische Urteile a priori sind, hier berücksichtigt, nur um sie „a priori begreiflich zu machen und zu deduzieren“. In Betracht kommen der „Grundsatz analytischer Urteile“ und besonders die „synthetischen Grundsätze“ des reinen Verstandes, KrV tr. Anal, 2. B. 2. H. am Anfang (I 190 f.—Rc. 246). Der „oberste Grundsatz aller analytischen Urteile“ ist der Satz des Widerspruchs (s. d.) als ein negatives Kriterium der Wahrheit (s. d.), das bei analytischen Urteilen aber positiv wird, ibid. 1. Abs. (I 192 f.—Rc 248 f.). Unseren synthetischen Urteilen a priori gibt nur die „Möglichkeit der Erfahrung“ objektive Realität. Die Erfahrung selbst beruht auf allgemeinen Regeln der Einheit, in der Synthesis der Erscheinungen, und die apriorisch-synthetische Erkenntnis hat nur dadurch Wahrheit (objektive Geltung), daß sie eben „nichts weiter enthält, als was zur synthetischen Einheit der Erfahrung überhaupt notwendig ist“. So ist das „oberste Prinzipium aller synthetischen Urteile“, der „oberste Grundsatz“ derselben, der Satz: „ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung“. Es ist zu beachten: „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind.zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori“, ibid. 2. Abs. (I I97 f.—Rc 253 f.).
Der Verstand ist der „Quell der Grundsätze, nach welchen alles (was uns nur als Gegenstand vorkommen kann) notwendig unter Regeln steht, weil ohne solche den Erscheinungen niemals Erkenntnis eines ihnen korrespondierenden Gegenstandes zukommen könnte“. Alle Gesetze (s. d.) der Natur stehen „unter höheren Grundsätzen des Verstandes, indem sie diese nur auf besondere Fälle der Erscheinung anwenden“. „Diese allein geben also den Begriff, der die Bedingung und gleichsam den Exponenten zu einer Regel überhaupt enthält; Erfahrung aber gibt den Fall, der unter der Regel steht.“ Zu den Grundsätze des reinen Verstandes gehören die der Mathematik (s. d.) nicht, wohl aber jene apriorischen Grundsätze, worauf sich die Möglichkeit und objektive Gültigkeit der mathematischen Grundsätze a priori gründet, deren „Prinzipien“ sie also sind, ibid. 3. Abs. (1198 f.—Rc 254 f.). Zu unterscheiden sind „mathematische“ und „dynamische“ Grundsätze, aber nur in Betracht ihrer Anwendung, nicht ihres Inhalts. In der Anwendung der Kategorien auf mögliche Erfahrung ist nämlich der Gebrauch ihrer Synthesis entweder „mathematisch“ oder „dynamisch“, denn „sie geht teils bloß auf die Anschauung, teils auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt“. „Die Bedingungen a priori der Anschauung sind aber in Ansehung einer möglichen Erfahrung durchaus notwendig, die des Daseins der Objekte einer möglichen empirischen Anschauung an sich nur zufällig. Daher werden die Grundsätze des mathematischen Gebrauchs unbedingt notwendig, d. i. apodiktisch, lauten, die aber des dynamischen Gebrauchs werden zwar auch den Charakter einer Notwendigkeit a priori, aber nur unter der Bedingung des empirischen Denkens in einer Erfahrung, mithin nur mittelbar und indirekt bei sich führen, folglich diejenige unmittelbare Evidenz nicht enthalten (obzwar ihrer auf Erfahrung allgemein bezogenen Gewißheit unbeschadet), die jenen eigen ist.“ Die Tafel der Kategorien gibt uns die natürliche Anweisung zur Tafel der Grundsätze, weil diese nur „Regeln des objektiven Gebrauchs“ der ersteren sind. Die zwei ersten Arten von Grundsätzen sind „mathematisch“ und von „intuitiver“, die beiden letzten „dynamisch“ und von „diskursiver“ Gewißheit. 1. Axiome der Anschauung (s. d.). 2. Antizipationen der Wahrnehmung (s. d.). 3. Analogien der Erfahrung (s. d.). 4. Postulate des empirischen Denkens überhaupt, ibid. (I 299 f.—Rc 255 f.). Die „mathematischen“ Grundsätze heißen so, weil sie „die Mathematik auf Erscheinungen anzuwenden“ berechtigen Sie sind „konstitutiv“ (s. d.), während die „dynamischen“ Grundsätze nur „regulativ“ (s. d.) sind, ibid. 3. Abs. 3 (I 216 f.—Rc 273 f.). Die Grundsätze des reinen Verstandes enthalten „gleichsam nur das reine Schema zur möglichen Erfahrung“. Sie sind nicht allein a priori wahr, sondern sogar „der Quell aller Wahrheit“, dadurch, daß sie den Grund der Möglichkeit der Erfahrung enthalten. Der Verstand kann von ihnen nur „empirischen Gebrauch“ machen, ibid. 3. H. (I 271 f.—Rc 333 f.). Die Grundsätze sind nur „Prinzipien der Exposition der Erscheinungen“ (I 278—Rc 341).
„Synthetische Sätze, die auf Dinge überhaupt, deren Anschauung sich a priori gar nicht geben läßt, gehen, sind transzendental. Demnach lassen sich transzendentale Sätze niemals durch Konstruktion der Begriffe, sondern nur nach Begriffen a priori geben. Sie enthalten bloß die Regel, nach der eine gewisse synthetische Einheit desjenigen, was nicht a priori anschaulich vorgestellt werden kann (der Wahrnehmungen), empirisch gesucht werden soll.“ Sie können ihre Begriffe nur a posteriori darstellen, „vermittelst der Erfahrung, die nach jenen, synthetischen Grundsätzen allererst möglich wird“. Ein transzendentaler Satz ist „ein synthetisches Vernunfterkenntnis nach bloßen Begriffen, und mithin diskursiv, indem dadurch alle synthetische Einheit der empirischen Erkenntnis allererst möglich, keine Anschauung aber dadurch a priori gegeben wird“. Denn aus einer Kategorie allein kann, „weil die Synthesis nicht a priori zu der Anschauung, die ihm korrespondiert, hinausgehen kann“, „kein bestimmter synthetischer Satz, sondern nur ein Grundsatz der Synthesis möglicher empirischer Anschauungen entspringen“, KrV tr. Meth. 1. H. 1. Abs. (I 605 f.—Rc 750 f.). Wir gehen z. B. mit der Kategorie der Ursache zwar aus dem empirischen Begriffe von einer Begebenheit heraus, „aber nicht zu der Anschauung, die den Begriff der Ursache in concreto darstellt, sondern zu den Zeitbedingungen überhaupt, die in der Erfahrung dem Begriffe der Ursache gemäß gefunden werden möchten“, ibid. 1. Anm. (I 606—Rc 751). „Der synthetische Satz, daß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt“, KrV 1. A. tr. Anal. 1. B. 2. H. 3. Abs. 1. Anm. (I 720—Rc 202 f.); vgl. Bewußtsein, Apperzeption. Nach diesem Grundsatz müssen alle Erscheinungen „so ins Gemüt kommen oder apprehendiert werden, daß sie zur Einheit der Apperzeption zusammenstimmen, welches ohne synthetische Einheit in ihrer Verknüpfung, die mithin auch objektiv notwendig ist, unmöglich sein würde“, ibid. (I 722—Rc 208).
Die „Grundsätze a priori der Möglichkeit aller Erfahrung als einer objektiv gültigen empirischen Erkenntnis“ sind Sätze, welche alle Wahrnehmung (gemäß gewissen allgemeinen Bedingungen der Anschauungen) unter die reinen Verstandesbegriffe subsumieren, Prol. § 21 (III 60). Urteile, „sofern sie bloß als die Bedingung der Vereinigung gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein betrachtet werden“, sind „Regeln“. Diese Regeln, „sofern sie die Vereinigung als notwendig vorstellen“, sind „Regeln a priori“, und „sofern keine über sie sind, von denen sie abgeleitet werden“, „Grundsätze“. „Da nun in Ansehung der Möglichkeit aller Erfahrung, wenn man an ihr bloß die Form des Denkens betrachtet, keine Bedingungen der Erfahrungsurteile über diejenigen sind, welche die Erscheinungen nach der verschiedenen Form ihrer Anschauung unter reine Verstandesbegriffe bringen, die das empirische Urteil objektiv-gültig machen, so sind diese die Grundsätze a priori möglicher Erfahrung.“ Die „Grundsätze möglicher Erfahrung“ sind nun zugleich „allgemeine Gesetze der Natur, welche a priori erkannt werden können“. Diese Grundsätze bilden ein „physiologisches, d. i. ein Natursystem“, „welches vor aller empirischen Naturerkenntnis vorhergeht, diese zuerst möglich macht und daher die eigentliche allgemeine und reine Naturwissenschaft genannt werden kann“, ibid. § 23 (III 64 f.). Diese Grundsätze sind auf die Bedingung eingeschränkt, „daß sie nur die Bedingungen möglicher Erfahrung überhaupt enthalten, sofern sie Gesetzen a priori unterworfen ist“. Nicht die Dinge an sich lassen sich als Größen, Substanzen, Ursachen usw. beweisen, sondern die Dinge stehen nur als „Gegenstände der Erfahrung“ a priori unter diesen Bedingungen. Hieraus folgt, „daß die gedachten Grundsätze auch nicht geradezu auf Erscheinungen und ihr Verhältnis, sondern auf die Möglichkeit der Erfahrung, wovon Erscheinungen nur die Materie, nicht aber die Form ausmachen, d. i. auf objektiv- und allgemeingültige synthetische Sätze, worin sich eben Erfahrungsurteile von bloßen Wahrnehmungsurteilen unterscheiden, bezogen werden“. Dies geschieht dadurch, „daß die Erscheinungen als bloße Anschauungen, welche einen Teil von Raum und Zeit einnehmen, unter dem Begriff der Größe stehen, welcher das Mannigfaltige derselben a priori nach Regeln synthetisch vereinigt; daß, sofern die Wahrnehmung außer der Anschauung auch Empfindung enthält, zwischen welcher und der Null, d. i. dem völligen Verschwinden derselben, jederzeit ein Übergang durch Verringerung stattfindet, das Reale der Erscheinungen einen Grad haben müsse, sofern sie (sc. die Empfindung) nämlich selbst keinen Teil von Raum oder Zeit einnimmt, aber doch der Übergang zu ihr von der leeren Zeit oder Raum nur in der Zeit möglich ist“, ibid. § 26 (III 67 ff.); vgl. Grad. Die „dynamischen“ Grundsätze sind die „eigentlichen Naturgesetze“; ihnen gemäß müssen Erscheinungen als Substanzen, als Ursachen oder Wirkungen, und als in Wechselwirkung stehend bestimmt werden. Endlich gehört zu den „physiologischen“ Grundsätzen „die Erkenntnis der Übereinstimmung und Verknüpfung: nicht sowohl der Erscheinungen untereinander in der Erfahrung, als vielmehr ihr Verhältnis zur Erfahrung überhaupt“, ibid. § 25 (III 66 f.). Die aus der Beziehung der Kategorien auf die Sinnenwelt entspringenden Grundsätze dienen unserem „Verstande nur zum Erfahrungsgebrauch“, sie sind nur „Prinzipien möglicher Erfahrung“ und können nie auf Dinge an sich selbst, immer nur auf Erscheinungen bezogen werden, ibid. § 30 (III 73 f.).
Nicht zu verwechseln sind logische Sätze, „die bloß die Form des Denkens (ohne irgendeinen Gegenstand in Betrachtung zu ziehen) betreffen, mit transzendentalen (welche die Art, wie der Verstand jene ganz rein und ohne eine andere Quelle als sich selbst zu bedürfen, zur Erkenntnis der Dinge a priori braucht)“, Üb. e. Entdeck. 1. Abs. C (V 3, 34 f.). „Grundsätze des Verstandes sind Regeln a priori, welche die Bedingungen der synthetischen Einheit möglicher Erfahrung enthalten“, N 5600. — „Die transzendentalen Grundsätze zeigen die Kategorien an, unter denen die Schemata der Sinnlichkeit stehen“, N 5933. „Alle Grundsätze der reinen Vernunft gehen auf die Sinnlichkeit und zeigen die Bedingungen an, unter denen die Vorstellung der Sinnlichkeit unter eine Kategorie gehört. Sie bestimmen also die Regel der Urteile überhaupt in Ansehung der Erscheinungen und sind Prinzipien möglicher Erfahrung; denn ohne die Kategorien könnten unsere Vorstellungen sich nicht auf Objekte beziehen, weil sie allein das Denken überhaupt in Beziehung auf Etwas überhaupt bestimmen“, N 5932. Hauptregel ist, „daß alle Grundsätze überhaupt nur von empirischem Gebrauch sind, mithin die Vernunft ganz und gar nur Regeln des Gebrauchs in Ansehung der Erfahrungen habe“, N 4869. Vgl. Regel, Gesetz, Natur, Kategorie, Axiome, Antizipationen, Analogien, Postulate (des empirischen Denkens), Gebrauch, Transzendent, Dialektik