Sinnlichkeit und Verstand
Sinnlichkeit und Verstand. Es ist zu beachten, „daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden“, KrV Einl. VII (I 71—Rc 89 f.). „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen oder Fähigkeiten können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen“, ibid. tr. Log. Einl. I (I 107—Rc 126). Verstand und Sinnlichkeit können bei uns nur in Verbindung Gegenstände bestimmen, ibid. tr. Anal. 2. B. 3. H. (I 289—Rc 353). Verstand u. Sinnlichkeit sind „zwei ganz verschiedene Quellen von Vorstellungen“, ibid. tr. Anal. Anh. Anmerk. z. Amphibolie (I 298 f.—Rc 362 f.). In unserem inneren Sinn „liegt das Geheimnis des Ursprungs unserer Sinnlichkeit“, ibid. (I 303—Rc 369). Sinnlichkeit und Verstand schränken einander gegenseitig ein. „Die Sinnlichkeit, dem Verstande untergelegt, als das Objekt, worauf dieser seine Funktion anwendet, ist der Quell realer Erkenntnisse.“ Sofern sie aber die Verstandeshandlung selbst beeinflußt und ihn zum Urteilen bestimmt, ist sie die Quelle des Irrtums, ibid. tr. Dial. Einl. I Anm. (I 315—Rc 381). Zwischen Sinnlichkeit und Verstand besteht eine nach gewissen Gesetzen a priori wohl denkbare Gemeinschaft. „Von dieser Harmonie zwischen dem Verstande und der Sinnlichkeit, sofern sie Erkenntnisse von allgemeinen Naturgesetzen a priori möglich macht, hat die Kritik zum Grunde angegeben, daß ohne diese keine Erfahrung möglich ist, mithin die Gegenstände (weil sie teils ihrer Anschauung nach den formalen Bedingungen der Sinnlichkeit, teils der Verknüpfung des Mannigfaltigen nach den Prinzipien der Zusammenordnung in ein Bewußtsein, als Bedingung der Möglichkeit einer Erkenntnis derselben, gemäß sind) von uns in die Einheit des Bewußtseins gar nicht aufgenommen werden und in die Erfahrung hineinkommen, mithin für uns nichts sein würden.“ Den Grund der Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Verstand können wir nicht angeben, Üb. e. Entdeck. 2. Abs. (V 3, 76 f.).
„Die innere Vollkommenheit des Menschen besteht darin: daß er den Gebrauch aller seiner Vermögen in seiner Gewalt habe, um ihn seiner freien Willkür zu unterwerfen. Dazu aber wird erfordert, daß der Verstand herrsche, ohne doch die Sinnlichkeit (die an sich Pöbel ist, weil sie nicht denkt) zu schwächen: weil ohne sie es keinen Stoff geben würde, der zum Gebrauch des gesetzgebenden Verstandes verarbeitet werden könnte“, Anthr. 1. T. §8 (IV 34). „Die Sinne verwirren nicht. Dem, der ein gegebenes Mannigfaltige zwar aufgefaßt, aber noch nicht geordnet hat, kann man nicht nachsagen, daß er es verwirre. Die Wahrnehmungen der Sinne (empirische Vorstellungen mit Bewußtsein) können nur innere Erscheinungen heißen. Der Verstand, der hinzukommt und sie unter einer Regel des Denkens verbindet (Ordnung in das Mannigfaltige hineinbringt), macht allererst daraus empirisches Erkenntnis, d. i. Erfahrung. Es liegt also an dem seine Obliegenheit vernachlässigenden Verstande, wenn er keck urteilt, ohne zuvor die Sinnenvorstellungen nach Begriffen geordnet zu haben, und dann nachher über die Verworrenheit derselben klagt, die der sinnlich gearteten Natur des Menschen zuschulden kommen müsse“, ibid. § 9 (IV 34). „Die Sinne gebieten nicht über den Verstand. Sie bieten sich vielmehr nur dem Verstande an, um über ihren Dienst zu disponieren“, ibid. § 10 (IV 350). „Die Sinne betrügen nicht“ (vgl. Sinnestäuschung) denn sie urteilen gar nicht, ibid. § 11 (IV 36). „Die Sinnlichkeit im Erkenntnisvermögen (das Vermögen der Vorstellungen in der Anschauung) enthält zwei Stücke: den Sinn und die Einbildungskraft“, ibid. § 15 (IV 46); vgl. Sinn. „Verstand und Sinnlichkeit verschwistem sich bei ihrer Ungleichartigkeit doch so von selbst zu Bewirkung unserer Erkenntnis als wenn eine von der anderen, oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten; welches doch nicht sein kann, wenigstens für uns unbegreiflich ist, wie das Ungleichartige aus einer und derselben Wurzel entsprossen sein könne“, ibid. § 31 (IV 80). Vgl. Verstand, Anschauung, Begriff, Übersinnlich, Kategorie, Idee, Analogie, Schema, Reflexionsbegriffe, Erkenntnis.