347. Dasein¹⁾. Leben²⁾.
Dasein gebraucht man von allen Dingen, auch von unorganischen, Leben nur von organischen, z. B. von Menschen, Tieren, Pflanzen. Leben ist also ein höheres Dasein. „So viel gewährt ein Freund, daß auch das Leben nicht mehr, als ein Dasein ist, wenn uns ein Freund gebricht.“ Hagedorn. „Nun also! Glück und Unglück haben beide | denselben Wurzelstock im Daseinsleide.11 Detlev von Liliencron, Des Großen Kurfürsten Reitermarsch (Bunte Beute, 4. Aufl. S. 203). „Der Tod ist hämisch aus dem Saal geschwunden, | Um gleich erst recht sein Dasein zu bekunden.“ Ebenda, S. 207. „Und wenn mein gütig freundliches Geschick | aus seinem furchtbar ungeheuren Dasein | des Lebens Freude mir bereiten will.“ Schiller, Picc. III, 8. „Doch eh’ mein Sarg die Erde noch erreicht, | Brüll’ ich empor, daß alles rings erbleicht: | Hurra das Leben!“ Detlev von Liliencron, Des Großen Kurfürsten Reitermarsch (Bunte Beute, 4. Aufl. S. 219). „Es lebe das Leben!“ Sudermann. Dasein könnte hier nicht stehen, da Leben hier die freudige Betätigung im Dasein hervorhebt. „Der Schrei klang wie die Angst des Lebens vorm Tode.“ Detlev von Liliencron, Novemberabend (Bunte Beute, 4. Aufl. S. 157). „Das nackte Leben mit seinen Roheiten und Rücksichtslosigkeiten, seinen unerhörten Ungerechtigkeiten, seinen Lieblosigkeiten und Verlogenheiten, mit seinem schändlichen Hochmut, mit seiner verbrecherischen Eitelkeit und — mit seinen bitterwenigen Maiblütentagen.“ Ebenda. Auch das Fremdwort Existenz ist im Deutschen sehr üblich; es ist aber niedriger im Klange als Dasein und Leben. Häufiger hat es auch eine Bedeutung, die in Dasein und Leben nicht liegt, es ist nämlich oft gleichlautend mit Fortkommen. So sagt man z. B.: der junge Mann hat sich eine Existenz gegründet; oder: Er hat in dieser Stadt seine Existenz gefunden. Dasein und Leben könnten hier nicht gesetzt werden. „Das Leben: das betrunkne Weib, sagt Piper, | Kurt Piper sagts in seinem 'Fegefeuer'.“ Detlev von Liliencron, Des Großen Kurfürsten Reitermarsch (Bunte Beute, 4. Aufl. S. 199). „Wie ein dunkelfahlgelber Kreisausschnitt liegt am westlichen Horizont der Lichtschein der großen Stadt, ein Abglanz ihrer unzähligen Laternen. Da keucht, rast das Leben!“ Detlev von Liliencron, Novemberabend (Bunte Beute, 4. Aufl. S. 159). So hebt Leben mehr den Inhalt, Dasein mehr die Begrenzung durch Geburt und Tod, die Dauer, den Verlauf hervor. „Nach ewigen, ehrnen, großen Gesetzen müssen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden.“ Goethe, Das Göttliche. „Ein kleiner Ring begrenzt unser Leben, und viele Geschlechter reihen sich dauernd an ihres Daseins unendliche Kette.“ Goethe, Grenzen der Menschheit. Den gleichen Gedanken drückt ein Vertreter der modernen Dichtung mit den Worten aus: „Der natürliche Drang, Mensch mit Menschen zu sein, Affe mit Affen, Spatz mit Spatzen. Denn schnell ist unser bißchen Hinundhergehüpfe vorbei; schnell gleich einer Regenbö.“ Detlev von Liliencron, Novemberabend (Bunte Beute, 4. Aufl. S. 159). „Das Leben steigt, das Leben fällt.“ Detlev von Liliencron, Mächtige deutsche Pappel (Bunte Beute, 4. Aufl. S. 167).
Leben wird auch in dem Sinne von Lebensarbeit, Lebensgenuß, Lebensschicksal, überhaupt von dem, was man erlebt, gebraucht, z. B. Komme nur erst einmal in das Leben hinaus; die Schule des Lebens; das Leben ausschöpfen; das Leben schlürfen; sich ausleben usw. Dasein und Existenz können in diesem Sinne nicht stehen. „Non scholae, sed vitae discimus“, d. i. „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“ „Neulich fuhr ich zum erstenmal ins Leben und kam dabei durch eine kleine Stadt.“ Detlev von Liliencron, Das Paradies (Bunte Beute, 4. Aufl. S. 191). „Zuerst: Selbstzucht vor allen Dingen, | soll dir im Leben dein Leben gelingen.“ Detlev von Liliencron, Mach es auch so (Bunte Beute, 4. Aufl. S. 61).