364. Dichten¹⁾. Erdichten²⁾.
Das Dichten (lat. dictare, d. i. eigentlich zum Niederschreiben vorsagen, diktieren; die alten deutschen Dichter und ritterlichen Sänger konnten weder lesen noch schreiben; sie schrieben daher ihre Gedichte nicht selbst nieder, sondern diktierten sie einem Schreiber, den sie sich zu diesem Zwecke, sowie zum Vorlesen hielten) ist das künstlerische Schaffen des Menschengeistes, das darin besteht, daß er dem Wirklichen und Tatsächlichen eine schöne und charakteristische Gestalt gibt, es in treffende Worte und Rhythmen kleidet, damit es gelesen, rezitiert oder gesungen werde. Die Erfindung von Situationen, Begebenheiten usw. tritt dabei ganz in den Hintergrund, So wenigstens haben unsere großen Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts diesen Begriff bestimmt. „Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d. h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können. Auf ihrem höchsten Gipfel scheint die Poesie ganz äußerlich; je mehr sie sich ins Innere zurückzieht, ist sie auf dem Wege zu sinken.“ Goethe, Spr. i. Pr. 671. Erdichten dagegen heißt, etwas aussinnen, um andere zu täuschen, zuweilen auch zu schlimmen Zwecken, z. B. der Schuldige erdichtete allerlei Ausflüchte, um der Strafe zu entgehen. Erdichten bezieht sich immer auf einzelnes, während dichten auch auf das Ganze, das geschaffen wird, sich beziehen kann. In der Umgangssprache wird zuweilen auch dichten in der Bedeutung: aussinnen, erfinden usw. gebraucht.