365. Dichtkunst¹⁾. Poesie²⁾. Dichtung³⁾.
Poesie ist allgemeiner als Dichtkunst. Dichtkunst bezeichnet sowohl die Fähigkeit zu dichten und die Ausübung dieser Fähigkeit, als auch die Summe der Regeln, die der Dichter, wenn er Vollendetes schaffen will, namentlich in bezug auf die Form zu beobachten hat (Poetik). Poesie (von gr. poiein, schaffen) dagegen kann außerdem noch eine Dichtung oder ein Gedicht selbst bedeuten, z. B. lyrische, dramatische, epische Poesie (— Dichtung), der Dichter trägt seine Poesien (= Gedichte) vor, usw.; dann wird es zuweilen auch zur ausschließlichen Bezeichnung der gebundenen Rede im Gegensatz zur Prosa gebraucht. „Poesie ist, rein und echt betrachtet, weder Rede noch Kunst; keine Rede, weil sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist keine Kunst, weil alles auf dem Naturell beruht, welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisch geängstiget werden darf; auch bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten, erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck.“ Goethe, Not. und Abhandl. zum west-östlichen Div., Verwahrung. Dichtung bezeichnet das, was der Dichter geschaffen hat, das Dichtwerk, z. B. Schillers Glocke ist eine der edelsten Dichtungen unseres Volkes, und zwar bezeichnet Dichtung Dichtwerke aller Gattungen, vornehmlich aber Werke von größerem Umfange, z. B. Goethes Faust ist die erhabenste deutsche Dichtung. Dann versteht man unter Dichtung weiter die Summe aller Dichtwerke, z. B. der Menschheit, eines Volkes, eines Zeitalters, einer bestimmten Richtung usw., z. B. die Dichtung aller Zeiten und Völker, die deutsche Dichtung, die Dichtung des 18. Jahrhunderts, die klassische, nationale, patriotische, anakreontische, naturalistische, antike, moderne Dichtung usw. Dichtung ist außerdem noch das Verbalsubstantiv zu dem Zeitworte: dichten, d. i. ersinnen, erfinden, und bedeutet dann: Erfindung, Ersonnenes, Erdichtung, z. B. Dichtung und Wahrheit; es ist alles Dichtung, was er erzählt usw. Dichtkunst und Poesie können in diesem Sinne nicht stehen. — Interessant ist das Verhältnis zwischen den beiden Wörtern Dichter und Poet. Dichter ist das alte deutsche Lehnwort, Poet ein der neueren Zeit entstammendes Fremdwort. Im siebzehnten Jahrhundert, im Zeitalter der trockenen Gelehrsamkeit, stand das Fremdwort Poet in hohem Ansehen und hatte einen edleren Klang als das Wort Dichter. Absichtlich altertümelnd sagt Otto Julius Bierbaum in seinem Gedicht: „Lyrikerchens Traum": „Statt unseres Reichs Lavendelduft, durchzieht Fabrikqualm nun die Luft — geh’ still in deine Kammer, Poet, und bring dich um!“ Erlebte Gedichte, Insel-Verlag, 2. Aufl. S. 35. Im achtzehnten Jahrhundert steigt allmählich das Wort Dichter über Poet empor, und gegenwärtig hat entschieden das Fremdwort Poet einen niedrigeren Klang als das Wort Dichter. Nur den, der kleinere, mehr schablonenmäßige Gedichte fertigt, nennt man gegenwärtig einen Poeten; der Ausdruck Dichter wäre dafür zu hoch und edel. So spricht man von einem Hofpoeten (der gleichsam auf Bestellung zur Verherrlichung eines Fürsten und seines Hofes reimt). Man könnte demnach von einem solchen bloßen Verskünstler sagen: „Er ist ein Poet, aber kein Dichter.“ Zu Goethes Zeiten standen die Worte im wesentlichen zwar noch im gleichen Werte, aber doch haftete dem Worte Poet schon die Bedeutung des Konventionellen, Berufsmäßigen an, während das Wort Dichter diesen Beruf im höchsten, idealsten Sinne bezeichnete. Im Vorspiel zum Faust bezeichnet Goethe die eine Person als Dichter, aber der Theaterdirektor sagt zu dieser Person: „Gebt Ihr Euch einmal für Poeten, | so kommandiert die Poesie!“ Vorher heißt es einmal: „Was träumet Ihr auf Eurer Dichterhöhe?“ und der Dichter selbst sagt: „Nein, führe mich zur stillen Himmelsenge, | wo nur dem Dichter reine Freude blüht, | wo Lieb und Freundschaft unsres Herzens Segen | mit Götterhand erschaffen und erpflegen.“ Poet könnte hier nicht stehen. „Ganz spät, nachdem die Teilung längst geschehen, naht der Poet, er kam aus weiter Fern'.“ Schiller, Teilung der Erde. Die Verse, die Otto Julius Bierbaum zur Münchner Linggfeier schrieb, sind für das Verhältnis der beiden Wörter in der Gegenwart wertvoll: „Den guten Deutschen sind völlig wurstig | ihre Poeten; sie sind nicht durstig | nach der Schönheit schimmernden Quellen | und nach dem hellen | Tranke der Wahrheit; | sie fordern nur Klarheit | von ihren guten | malzwürdigen Suden. | Wer bei ihnen dichtet, | der ist gerichtet. . . Man legt dem Dichter vor die Füße | alle die zeitungspapiernen Grüße | und die Bankzettelscheine dann, | wenn er ein alter, müder Mann. |,Schau, wie lieben wir dich, o Dichter!“ | ruft der Banausen Philistergelichter. | Siebenzig Jahre bist du nun alt, und dein Feuer, schon ist es erloschen. | Alle Halme sind ausgedroschen ... | Alter Poete, da nimm deinen Brocken.“ Zu einer Jubelfeier (Erlebte Gedichte S. 150 und 151). Wer dieses Gedicht läse, ohne die absichtlich in das Wort „Poet“ oder „Poete“ gelegte Verachtung zu empfinden, der würde die Bitterkeit des Tones nicht voll erfassen. „Dieses Pauken und Trompeten | für die Poeten, für die Poeten?“ Ebenda. Im mittelhochdeutschen Zeitalter hieß bei uns die Poesie Sang und der Dichter Singer oder Sänger. Erst mit dem Humanismus kamen im 16. u. 17. Jahrhundert die Ausdrücke Poesie und Poet bei uns auf. „Die Dichter sind, Freund Freiligrath muß pumpen: 'Des Himmels Prinzen und der Erde Lumpen'.“ Detlev von Liliencron, Des Großen Kurfürsten Reitermarsch (Bunte Beute, 4. Aufl. S. 207). Dasselbe Verhältnis wie zwischen Dichter und Poet besteht zwischen Dichtung und Poesie. Nur in dem Sinne: Inbegriff aller Dichtwerke hat Poesie gleichen Rang und Klang mit Dichtung. Bezeichnet dagegen Poesie ein einzelnes Dichtwerk, so klingt es etwas niedriger als Dichtung, und noch niedriger steht das Wort Poem. Kleine, leichte Gelegenheitsgedichte nennt man Poeme oder Poesien, niemals Dichtungen, unter denen man nur Werke von wirklichem dichterischem Gehalte versteht.