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Ohne Affektation sein. Je mehr Talente man hat, desto weniger affektiere man sie: denn solches ist die gemeinste Verunstaltung derselben. Die Affektation ist den Anderen so widerlich, als dem, der sie treibt, peinlich: denn er ist ein Märtyrer der darauf zu verwendenden Sorgfalt und quält sich mit pünktlicher Aufmerksamkeit ab. Die ausgezeichnetesten Eigenschaften büßen durch Affektation ihr Verdienst ein, weil sie jetzt mehr durch Kunst erzwungen, als aus der Natur hervorgegangen scheinen: und überall gefällt das Natürliche mehr als das Künstliche. Immer hält man dafür, dass dem Affektierenden die Vorzüge, welche er affektiert, fremd sind. Je besser man eine Sache macht, desto mehr muß man die darauf verwandte Mühe verbergen, um diese Vollkommenheit als etwas ganz aus unserer Natur Entspringendes erscheinen zu lassen. Auch soll man nicht etwa aus Furcht vor der Affektation gerade in diese geraten, indem man das Unaffektiertsein affektiert. Der Kluge wird nie seine eigenen Vorzüge zu kennen scheinen: denn gerade dadurch, dass er sie nicht beachtet, werden Andere darauf aufmerksam. Doppelt groß ist der, welcher alle Vollkommenheiten in sich, aber keine in seiner eigenen Meinung hat: er gelangt auf einem entgegengesetzten Pfade zum Ziel des Beifalls.