519. Erscheinung¹⁾. Gesicht²⁾.
Ein Gesicht (eine Vision) ist ein Bild der Einbildungskraft, das jemand im Schlafe oder in einer Entzückung für etwas Wirkliches außer sich hält; eine Erscheinung hingegen findet nur bei wachem, nicht erregtem Zustande statt und ist das Sichtbarwerden eines der unsichtbaren Geisterwelt angehörigen Wesens, namentlich das Sichtbarwerden des Göttlichen. So erzählt die Bibel von den Gesichten der Propheten (Daniels, Hesekiels usw.) und von den Erscheinungen der Engel, Jesu u. a. „Wie ein Traum vergehet, so wird er (der Gottlose) auch nicht funden werden, und wie ein Gesicht in der Nacht verschwindet.“ Hiob 20, 8. „Daher, lieber König Agrippas, war ich der himmlischen Erscheinung nicht ungläubig.“ Apost. G. 26, 19. — Vielfach werden beide Ausdrücke aber auch ohne Unterschied für einander gesetzt. „Schreckliches Gesicht!“ ruft Faust aus, indem er sich von dem erscheinenden Geiste abwendet, und kurz danach sagt er: „Ach, die Erscheinung war so riesengroß, | daß ich mich recht als Zwerg empfinden sollte.“ Goethe, Faust I. Nacht. Erscheinung ist überhaupt gegenwärtig üblicher, als Gesicht, das fast nur noch bei Dichtern vorkommt, und wird von jedem Sichtbarwerden eines Dinges gebraucht, auch von einem solchen, das nicht auf einer übernatürlichen Ursache, wie im biblischen Sprachgebrauche, sondern auf einer Täuschung der Sinne beruht, z. B. Gespenstererscheinung. „Aber flüchtet aus der Sinne Schranken | in die Freiheit der Gedanken, | und die Furchterscheinung ist entflohn.“ Schiller, Das Ideal u. d. Leb.