693. Genie¹⁾. Talent²⁾.
Das Genie (von frz. le génie, lat. genius, Schutzgeist; daher ist eig. der Genie, wie Schiller und Wieland anfangs noch schrieben, das richtigere; das gegenwärtig allein übliche Neutrum erklärt sich daraus, daß man das Wort fälschlich von ingenium abgeleitet hat) wird angeboren, das Talent (vgl. Art. 616) kann auch erworben werden. Man sagt nicht, ein großer Tonkünstler habe sich das Genie, aber wohl das Talent erworben, die schwersten Musikstücke mit der größten Fertigkeit auszuführen. In Genie wird ferner die Beziehung der Anlagen auf ihren Ursprung angedeutet, in Talent auf dasjenige, zu dessen Hervorbringung sie erfordert werden. Da aber dazu oft verschiedene Geschicklichkeiten gehören, so müssen zuweilen zu der nämlichen Art von Werken, für welche jemand Genie hat, mehrere Talente mitwirken. Genie ist also umfassender als Talent, und zu einem Genie gehören viele Talente. Ein großer Dichter muß Genie zur Dichtkunst haben, er muß aber, wenn er vortreffliche Gedichte schaffen will, dazu das Talent für Vers, Rhythmus und Sprache, das Talent, die Natur und die Menschenwelt zu beobachten und getreu wiederzugeben, in sich vereinigen. Da das Talent erworben werden kann und eine jede einzelne Kunstfertigkeit ein Talent, der Inbegriff aller aber, auch der schwersten, und derer, die nicht durch Übung erworben werden können, Genie genannt wird, so legt man ferner ein Talent schon demjenigen bei, der das darin leistet, was die Besseren und Besten in seiner Kunst gewöhnlich zu leisten pflegen; das Genie muß auch die Besten übertreffen. Ein jeder vorzügliche Maler muß Talent zu seiner Kunst haben, aber ein Raffael d’Urbino hat Genie und ist ein Genie. Endlich schwingt sich das Genie ohne die gewöhnliche Hilfe zu dem höchsten Gipfel seiner Kunst, das Talent ersteigt die ihm angemessene Stufe mit Hilfe der Regeln und der Übung. Das Talent bezieht sich daher vorwiegend auf die mechanische oder durch mechanische Handgriffe erreichbaren Teile der Kunst, denn in diesen kann die Fertigkeit durch Übung und Studium erworben werden. Das Genie umfaßt das Geistige der Kunst, und diesem kann sich keiner nähern, der nicht selbst Genie hat. Raffaels himmlischer Ausdruck ist noch unerreicht geblieben; denn er kann nicht erlernt werden.
Man bezeichnet das Genie auch als die schöpferische Kraft des Menschengeistes; namentlich Klopstock, Goethe und Schiller faßten es so auf. Goethe nennt es geradezu den Geist-Schöpfer, den Creator Spiritus. Denn da es alles sich selbst verdankt, da es durch kein Studium, keine Regeln, keine Nachahmung vorbereitet zu sein braucht, da es keinem Vorbilde nachbildet, so schafft es sich neue Bahnen und bringt neue Schöpfungen ans Licht. Das Genie schafft, das Talent führt aus. Das hindert indes nicht, daß das Genie sich durch Studium vervollkommne und die Werke seiner Vorgänger benutze. Goethe bezeichnet Genie als „diejenige Kraft des Menschen, welche durch Handeln und Tun Gesetz und Regel gibt.“ Dicht, u. Wahrh. IV, 19. Schiller stellt den Begriff des Genies in herrlicher Weise dar in seiner Abhandlung: Über naive und sentimentalische Dichtung, in der Stelle: „Naiv muß jedes wahre Genie sein, oder es ist keines. Seine Naivetät allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Ästhetischen ist, kann es im Moralischen nicht verleugnen. Unbekannt mit den Regeln, den Krücken der Schwachheit und den Zuchtmeistern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem Instinkt, seinem schützenden Engel, geleitet, geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen des falschen Geschmackes, in welchen, wenn es nicht so klug ist, sie schon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verstrickt wird. Nur dem Genie ist es gegeben, außerhalb des Bekannten noch immer zu Hause zu sein und die Natur zu erweitern, ohne über sie hinauszugehen. Zwar begegnet letzteres zuweilen auch den größten Genies, aber nur, weil auch diese ihre phantastischen Augenblicke haben, wo die schützende Natur sie verläßt, weil die Macht des Beispiels sie hinreißt oder der verderbte Geschmack ihrer Zeit sie verleitet. Die verwickeltsten Aufgaben muß das Genie mit anspruchsloser Simplizität und Leichtigkeit lösen; das Ei des Kolumbus gilt von jeder genialischen Entscheidung. Dadurch allein legitimiert es sich als Genie, daß es durch Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es verfährt nicht nach erkannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes (alles, was die gesunde Natur tut, ist göttlich), seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und für alle Geschlechter der Menschen usw.“ Neuere Darstellungen des Geniebegriffes siehe in den Werken: Otto Lyon, Das Pathos der Resonanz (Leipzig, B. G. Teubner, 1900), und Hermann Türck, Der geniale Mensch.