699. Gesang¹⁾. Lied²⁾. Ode³⁾. Psalm⁴⁾. (Elegie, Leich)
Gesang bezeichnet sowohl die Tätigkeit des Singens, als auch das, was gesungen wird. Besonders nennt man ein zum Singen bestimmtes Gedicht Gesang; es heißen ferner so die Abteilungen größerer epischer Gedichte. Wie man endlich die Dichter wohl Sänger nennt, so bezeichnet man auch überhaupt Gedichte mit dem Namen Gesänge. „Teil Welten unter sie — nur, Vater, mir Gesänge.“ Schiller, Der Abend. Ein Lied ist ein in Strophen abgeteiltes, nach einer bestimmten Melodie zu singendes Gedicht; dann wird auch überhaupt jedes lyrische Gedicht so genannt. Unter Ode (von griech. ōdē, Gesang) versteht man ein feierliches, schwunghaftes Lied. Die Ode stellt die Ereignisse von allgemein nationalem oder allgemein menschlichem Interesse dar; sie bleibt aber nicht bei der bloßen Wirklichkeit stehen, sondern erhöht sie und wählt sich einen Gegenstand, der an sich schon das Alltägliche überragt, und preist in Bewunderung und Begeisterung das über die Wirklichkeit Erhöhte oder das, was über seine Umgebung hoch emporragt oder außerhalb der sinnlichen Wirklichkeit liegt. So besingt sie gewaltige Naturerscheinungen, hervorragende Personen, z. B. Fürsten, Staatsmänner, Männer der Wissenschaft und Kunst, weltgeschichtliche Größen, oder sie erhebt sich zum Preise Gottes. Edle, erhabene Sprache und schwungvolle Rhythmen sind dem Stil der Ode besonders angemessen. Die Siegeslieder und Lobgesänge Pindars sind Oden von hinreißendem Schwunge, die in innigster Beziehung zu der Religion und dem gesamten Staatsleben des ganzen griechischen Volkes stehen. In ähnlicher Weise befriedigen unser Gefühl Klopstocks Oden, die in stürmisch bewegter Begeisterung vorwiegend Gott und die Offenbarung der Gottheit in Natur und Geschichte preisen. Klopstocks Frühlingsfeier, Zürchersee u. a. müssen als Meisterwerke des Odenstills bezeichnet werden. Unterarten der Ode sind Hymne und Dithyrambe. Hymnen nennt man Oden von freiester und kühnster rhythmischer Form, wie z. B. die Gesänge Pindars, welche der religiösen Begeisterung Ausdruck verleihen, während die Dithyrambe gleichfalls in ungebändigter rhythmischer Freiheit die irdische Beseligung in trunkener Wonne preist. Eine Dithyrambe ist Schillers Gedicht: „Nimmer, das glaubt mir, erscheinen die Götter, nimmer allein."
Verwandt ist auch die Elegie (gr. elegeia, von elegos, Klagelied). Diese hat sich unmittelbar aus der Epik entwickelt; das Staatsleben, die inneren und äußeren Kämpfe waren der tatsächliche Grund, auf dem die Elegien erwuchsen. Das Wort Elegeion bezeichnete bei den Griechen ursprünglich wohl nur die metrische Form, den Pentameter oder die Verbindung des Hexameters mit dem Pentameter. Die Form des Distichons führte von selbst zu jenem reflektierenden Zuge, den wir als das Charakteristische der Elegie empfinden. Die Elegie darf keineswegs bloß als ein Erguß wehmütiger Empfindung betrachtet werden; sie ist vielmehr eine ruhig bewegte, lyrische Betrachtung, die sich an irgendein persönliches Erlebnis schmerzlicher oder fröhlicher Art oder an Ereignisse von allgemeiner Natur anknüpft; gewöhnlich ist sie in Distichen abgefaßt, doch haben deutsche Dichter auch andere Formen, z. B. gereimte Strophen, die Terzine u. a. mit Glück für sie verwendet. Die vollendetste deutsche Elegie ist der Spaziergang von Schiller. Namentlich bei den Römern war die Elegie zu hoher Blüte gelangt (Ovid, Tibull, Properz, Catull), Psalmen (von griech. psalmos, was von psallein, rupfen, reißen, dann: die Saiten reißen, schlagen, herkommt) werden die religiösen Gesänge der Juden genannt; dann auch neuere Gedichte verwandten Inhalts (z. B. Scheffels Bergpalmen). — Auch der Leich ist hier zu erwähnen. Den Leich (von got. laiks, d. i. Spiel, Tanz) kannte nur die Lyrik des Mittelalters. Er bestand aus einer unbestimmten Zahl gereimter, ungleichartiger Strophen, von denen jede sich in zwei gleiche Teile gliederte; ursprünglich waren die Leiche religiösen Inhalts, wahrscheinlich waren sie Opfertanzlieder aus heidnischer Vorzeit. Neben den geistlichen Leichen wurden aber auch solche weltlichen Inhalts gedichtet, wie z. B. die des Tannhäusers. Der Leich wurde von vielen gemeinsam gesungen, war also Chorgesang, während das Lied im Mittelalter gewöhnlich von einem einzelnen gesungen wurde.