536. Fabel¹⁾. Erzählung²⁾. Märchen³⁾.
Erzählung drückt keine Rücksicht auf Wahrheit oder Unwahrheit der dargestellten Begebenheit aus. Fabel und Märchen aber sind nur erdichtete Erzählungen. „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine Fabel.“ Lessing, Abh. üb. d. Fabel I. Ein Märchen (Deminutivum zu dem neuhochd. Substant. die Märe, mhd. das und die mœre, ahd. mâri, das ist etwas, wovon viel und gern gesprochen wird, dann: eine Kunde, ein Bericht, eine Erzählung) dagegen ist eine Erdichtung, die Wunderbares und Unglaubliches in phantastisch ausgeschmückter Weise erzählt, z. B. das Märchen von den sieben Raben, von dem Tischlein deck dich! usw. „Ein altes Märchen endigt so, | wer heißt sie’s deuten?“ Goethe, Faust I. Kerker. Außerhalb der poetischen Kunstsprache aber haben beide Wörter noch die allgemeinere Bedeutung; etwas Unwahres, was in einer Gesellschaft, in einem Orte usw. erzählt wird. Fabel drückt dann bloß das Erdichtetsein, Märchen außerdem noch die Verbreitung und das allgemeine Bekanntsein der unwahren Geschichte aus. Wenn jemand eine Geschichte in einer Gesellschaft erzählt und sagt, es sei eine Fabel, so will er anzeigen, er halte sie für falsch; sagt er, es sei ein elendes Stadtmärchen, so will er zu verstehen geben, daß diese Fabel sich in der Stadt verbreitet habe und häufig in Gesellschaften erzählt werde.