542. Fähigkeit¹⁾. Geschicklichkeit²⁾. Fertigkeit³⁾.
Die Beschaffenheit, die jemand zukommen muß, um eine Wirkung hervorbringen zu können, ist zunächst das Vermögen dazu, und dieses, wenn es mit den Eigenschaften verbunden ist, die Kräfte zweckmäßig anzuwenden, ist die Fähigkeit (vgl. d. vorherg. Art.). Wenn aber die Wirkung sehr zusammengesetzt ist, so gehören mehrere Handlungen dazu, um sie hervorzubringen, und der Handelnde muß seine Kräfte dementsprechend einzuteilen wissen. Dies geschieht durch die Beobachtung der nötigen Regeln, zu denen man auch unvermerkt durch Nachdenken, Aufmerksamkeit und Erfahrung gelangen kann. Wer diese Regeln zu einer Wirkung anzuwenden weiß, hat Geschicklichkeit dazu. Wenn die Anwendung dieser Regeln durch wiederholte Übung so leicht geworden ist, daß sie geschwind und ohne Anstrengung, ja ohne merkliche Aufmerksamkeit erfolgen kann, also mechanisch geworden ist, so ist Fertigkeit zu den Handlungen vorhanden, durch die etwas bewirkt wird. Die Fähigkeit entsteht aus den angeborenen und erworbenen Anlagen, sowohl des Körpers als der Seele, und was letztere betrifft, sowohl des Willens als des Verstandes; indes legt sie der Sprachgebrauch vorzüglich der Seele bei. Wenn die Handlungen von seiten ihrer Sittlichkeit betrachtet werden und man bemerkt, daß sie dem Handelnden vermöge seines Charakters oder einer herrschenden Leidenschaft oder eines natürlichen oder erworbenen Hanges dazu möglich sind, so hält man ihn dazu fähig, ohne ihm die Geschicklichkeit und noch weniger die Fertigkeit dazu beizulegen. Aus Liebe ist man der größten Aufopferungen und aus Rache der größten Verbrechen fähig. „Wahrhaftig, ich wüßte nicht, wozu mein gekränktes Herz jetzt nicht alles fähig wäre.“ Goethe, Die Aufgeregten IV, 2. Einen verworfenen Menschen macht sein Charakter zu allen Betrügereien fähig, er ist nur nicht immer geschickt dazu. Ein anderer hat alle Geschicklichkeit und Fertigkeit in Kartenkünsten; er ist aber zu ehrlich, um fähig zu sein, sie je zum Betrug im Spiele zu gebrauchen. Geschicklichkeit und Fertigkeit unterscheiden sich durch die drei Merkmale voneinander, daß 1. der, welcher eine Fertigkeit in einer gewissen Art von Handlungen hat, sie leichter, geschwinder und ohne merkliche Überlegung, als geschehe es mechanisch, verrichten kann; 2. daß zur Geschicklichkeit immer die bewußte Anwendung gewisser Kunstregeln erfordert wird, zur Fertigkeit nicht; daß Geschicklichkeit mit Absicht gewonnen wird, eine Fertigkeit auch unabsichtlich durch die bloße Wiederholung einer gewissen Art von Handlungen entstehen kann. Ein Mensch hat eine Fertigkeit im Fluchen, wenn er, ohne daran zu denken, flucht, weil er schon oft geflucht hat; es ist aber keine Geschicklichkeit, denn es gehört keine Kunst dazu, und er hat sich nicht absichtlich darin geübt. „Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden. Dies ist der Zweck aller Erziehung.“ Goethe, Wahlverw. I, 5. Fertigkeit bezeichnet aber nicht bloß die Möglichkeit, etwas mit Leichtigkeit zu verrichten, sondern häufig die Verrichtung selbst. So sagt man: „Er hat verschiedene Fertigkeiten erlernt.“ In diesem Sinne können Fähigkeit und Geschicklichkeit nicht stehen. — Auch der Ausdruck Geläufigkeit ist mit Fertigkeit sinnverwandt. Geläufigkeit bezeichnet aber niemals die bloße Möglichkeit, etwas geschwind und leicht zu verrichten, wie Fertigkeit, sondern immer die Verrichtung selbst, und zwar die Schnelligkeit und Gewandtheit, mit der sie vor sich geht. Wer sich große Fertigkeit im Klavierspiel erworben hat, vermag auch geläufig zu spielen. Er spielt fertig, d. h. mit vollendeter Sicherheit; er spielt geläufig, d. h. mit großer Gewandtheit und Beweglichkeit. Man kann eine Sprache fertig und geläufig sprechen; fertig, sofern man weder grammatische noch stilistische Fehler macht, noch die Gesetze der Aussprache verletzt; geläufig, sofern man rasch und ohne Stocken zu sprechen vermag.