571. Figur¹⁾. Form²⁾. Gestalt³⁾.
Bildung⁴⁾.
Form ist überhaupt die feste, bestimmte Begrenzung eines Stoffes, im ganzen, wie im einzelnen, sei es nun ein Stoff körperlicher oder geistiger Art. So spricht man von der Form eines Gewehrs, eines Knopfes, eines Buches usw., wie von der Form eines Wortes, Gedichtes, eines Briefes, einer Abhandlung u. ähnl. „Den Stoff sieht jedermann vor sich; den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.“ Goethe, Spr. i. Pr. 248. Die Gestalt (eig. das Aufrechtgestellte) ist zunächst nur die Form eines lebendigen Körpers, dann aber eines Körpers überhaupt, und zwar sofern sie nicht von dem körperlichen Stoffe abgezogen gedacht wird. Man sagt: eine hagere Gestalt, weil die Gestalt immer den körperlichen Stoff mit in sich begreift. Aber man sagt nicht: die Kunstgestalt, sondern die Kunstform einer Dichtung, nicht die Gestaltvollendung, sondern die Formvollendung eines Kunstwerkes usw. Briefgestalt würde heißen: kuvertiert und gesiegelt, Briefform: wie ein Brief abgefaßt. Man sagt: Jupiter entführte die Europa unter der Gestalt eines Stieres, denn ein Stier ist ein körperliches Wesen, aber: Eine feine Erziehung und ein steter Umgang mit Menschen von feinem Gefühl und Geschmack geben einem jungen Manne gute Formen, nicht: gute Gestalten; denn die Umgangsformen sind etwas Geistiges, das sich nur durch den Körper äußert. — Gestalt kann auch zur Bezeichnung von Personen, überhaupt von Einzelwesen dienen; in diesem Sinne kann Form nicht gebraucht werden, z. B. es nahten sich zwei Gestalten, vermummte, dunkle Gestalten u. dgl. Die Figur besteht aus den äußersten Umrissen der körperlichen Gestalt; sie ist die Abbildung einer Gestalt in ihren Umrissen. Sie kann daher nur dem zukommen, was zu dem Körper gehört, zu ihm selbst und zu den Flächen, die ihn begrenzen. Die Figuren können durch Zeichnung dargestellt werden, wie z. B. die geometrischen Figuren, die man weder geometrische Formen noch Gestalten nennt. Aber sie können auch die volle Rundung einer lebendigen Gestalt wiedergeben, z. B. eine Holzfigur, Gipsfigur usw. Bildung ist von Form, Gestalt und Figur dadurch verschieden, daß es nur von Naturkörpern gebraucht wird und da diejenigen Formen bezeichnet, welche durch die schaffende Tätigkeit der Natur (Wachstum, Kristallisation usw.) entstehen. Man spricht von eigenartigen Felsenbildungen, Pflanzenbildungen, Mißbildungen u. dgl. Das kleinste Insekt ist in seinem Innern sehr künstlich gebildet; man 571. Figur. 483 sagt, es habe unter den Griechen mehr wohlgebildete Männer, als wohlgebildete Weiber gegeben. Im uneigentlichen Sinne wird es auch von der menschlichen Seele gesagt, und dann bedeutet es eine Vervollkommnung ihrer Kräfte. „Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei. — Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten als von dem Hervorgebrachtwerden gehörig genug zu brauchen pflegt,“ Goethe, Zur Morphologie, Die Absicht eingeleitet. — Schiller gebraucht Gestalt zur Bezeichnung des wahrhaft Seienden, geradezu als Übersetzung der Ideen Platos. — Auch das Wort Bild wird häufig in dem Sinne von Bildung oder Gestalt verwendet und ist in dieser Anwendung sinnverwandt mit den genannten Ausdrücken, wie auch das Wort Gebild. Bild unterscheidet sich von den übrigen Bezeichnungen dadurch, daß es gewöhnlich auf einen Gegenstand hindeutet, dessen Abbild oder Nachbild es ist, oder auf einen Gegenstand, dessen Wesen ohne Rücksicht auf die Zufälligkeiten der einzelnen Erscheinungen der Wirklichkeit es vollkommen darstellt, für den es also das Urbild ist. In diesem letzten Sinne nimmt es häufig geradezu die Bedeutung Ideal an, und wie man im älteren Deutsch für Ideal geradezu Bild (bilde) sagte, so hat man das Fremdwort neuerdings mit Urbild oder Leitbild verdeutscht. Gewöhnlich hat daher Bild die Nebenbedeutung, daß das in ihm anschaulich Dargestellte zugleich verfeinert oder vervollkommnet erscheint, was z. B. in dem Ausdruck bildschön deutlich zutage tritt. Während eine Figur, eine Gestalt auch etwas noch Rohes, Unausgeführtes, bloß die Umrisse Zeigendes sein kann, ist das Bild immer etwas Ausgeführtes. Eine verhüllte oder abschreckend angekleidete Figur kann für mich eine Schreckgestalt sein; auch wenn ich nur die Umrisse dunkel erkenne; ein Schreckbild entwirft mir dagegen jemand, der mir irgendeinen Zustand oder eine Lage in abschreckenden Farben in allen Einzelheiten ausführlich darstellt. „Schwänden dem inneren Auge die Bilder sämtlicher Blumen, | Eleonore, dein Bild brächte das Herz sich hervor.“ Goethe, Vier Jahreszeiten. Frühling. Gebild ist alles, was durch das Bilden hervorgebracht wird, sei es durch eigenes inneres Schaffen oder durch nachahmende Kunst; gewöhnlich hat daher Gebild den Nebenbegriff des Vollendeten, des Kunstvollen. „Und herrlich, in der Jugend Prangen, | wie ein Gebild aus Himmelshöhn, | sieht er die Jungfrau vor sich stehn.“ Schiller, Glocke. „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, | da kann sich kein Gebild gestalten.“ Schiller, Glocke. „Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, | stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht! | Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde | stille befruchtender Schoß hold in das Leben entläßt | und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten, | gleich den zartesten Bau keimender Blätter empfiehlt. | Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild| lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt, | Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos; | trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt, | quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend, | und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht. | Aber einfach bleibt die Gestalt der ersten Erscheinung; | und so bezeichnet sich auch unter den Pflanzen das Kind. | Gleich darauf ein folgender Trieb sich erhebend erneuet, | Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild, | zwar nicht immer das gleiche; denn mannigfaltig erzeugt sich, | ausgebildet, du siehst’s, immer das folgende Blatt | ......... Doch hier hält die Natur mit mächtigen Händen die Bildung | an und lenket sie sanft in das Vollkommnere hin. | Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefäße, | und gleich zeigt die Gestalt zartere Wirkungen an. | Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke, | und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus. | Blattlos aber und schnell erhebt sich der zartere Stengel, | und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.“ Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen. In diesem wunderbaren Gedichte, einem der schönsten und tiefsinnigsten Goethes, tritt uns die Bedeutung der behandelten Ausdrücke in ausgezeichneter Weise entgegen.