611. Führen¹⁾. Leiten²⁾. Lenken³⁾. Gängeln⁴⁾.
Führen (eig. machen, daß etwas fährt, d. i. sich bewegt) zeigt bloß die Mitteilung der Bewegung und die Bestimmung ihrer Richtung an. Zu diesem Begriffe setzt leiten noch das Ziel und den Zweck hinzu, auf welchen die Bewegung gerichtet ist, nebst der Bemühung, diesen Zweck ungefährdet zu erreichen. Lenken aber drückt die Bemühung aus, dem Bewegten einen solchen Eindruck zu geben, daß es nicht die Richtung verlasse, die dem beabsichtigten Ziele gemäß ist. Man führt einen Kranken, der keine Kräfte zum Gehen hat; man leitet Wasser in einen Garten, indem man durch eine Vorrichtung (Rinne, Graben usw.) demselben eine Bahn bestimmt, in der es fließen muß; man leitet ein Kind, einen Blinden usw., wenn man sie an den Ort hinbringen will, den sie sonst nicht finden würden, und wenn man zugleich verhüten will, daß sie unterwegs fallen oder anstoßen. Leiten weist immer auf überlegene Kraft oder Einsicht hin, die in nachdrücklicherer Weise bestimmend auf andere wirkt, als es beim bloßen Führen geschieht. Daher geschieht das Leiten namentlich durch Höhergestellte, und seine Wirkung erstreckt sich auch in die Ferne. Ein Offizier führt seine Abteilung, ein Feldherr leitet die Schlacht. Eine Anstalt, ein Etablissement usw. wird von einem Direktor geleitet. Leiten setzt immer die eigene, selbständige Bewegung des Geleiteten voraus, die nur der Behütung oder der Begrenzung bedarf, führen geht aber auf die Unterstützung der Bewegung, die sonst nur langsam und mühevoll vor sich gehen würde. Man leitet durch Rat, man führt auch durch Gewalt. „Wer sich nicht von der Vernunft leiten läßt, der läuft Gefahr, daß ihn seine Leidenschaften ins Verderben führen.“ — „Wir folgen blind, wohin die Göttliche | uns führt! Ihr Seherauge soll uns leiten!“ Schiller, Jungfr. I, 10. Lenken setzt immer eine der Leitung bedürftige Kraft voraus, die von einer höhern, erleuchteteren eine Richtung erhält, welche den Absichten und Zwecken dieser höhern Kraft entspricht. Man lenkt einen Wagen, ein Pferd, ein Zugtier, man lenkt aber auch unselbständige Geister, Volksmassen usw., um durch diese bestimmte Absichten zu erreichen. „Der Mensch denkt, Gott lenkt.“ Gott gegenüber erscheint auch der höchstentwickelte Geist als unselbständiger, der unbewußt höheren Zwecken dient. Gängeln (ein Wiederholungswort zu dem alten gengen, d. i. gehen machen) heißt jemand beim Gehen leiten und führen, so daß er keinen Schritt für sich allein machen kann, sondern immer am Gängclbande gehalten wird wie ein kleines Kind. Es bedeutet daher ein kleinliches und ängstliches Leiten und Lenken eines Menschen, der durch eine solche ihn überall gängelnde Erziehung schwer oder gar nicht zur Selbständigkeit gelangt. Das Wort gängeln schließt daher in der Regel einen Vorwurf in sich und wird namentlich gebraucht, wenn auch reifere Schüler oder Söhne noch auf Sehritt und Tritt überwacht werden und alles lediglich nach Vorschrift tun müssen.