105. Anmutig¹⁾. Hold²⁾. Holdselig³⁾. Reizend⁴⁾. Anmut⁵⁾. Holdseligkeit⁶⁾. Reiz⁷⁾. Liebreiz⁸⁾. Grazie⁹⁾.
Alle diese Worte bezeichnen etwas, was sinnliches Wohlgefallen erregt. Anmut und anmutig (s. hierüber Art. 89) bezieht sich gegenwärtig fast nur auf Gestalt und Form und bezeichnet namentlich auch die Schönheit in der Bewegung, z. B. eine anmutige Haltung, eine anmutige Stellung, Bewegung, Erscheinung, ein anmutiges Bild usw. Auf Gehöreindrücke übertragen sagt man auch: eine anmutige Musik, ein anmutiges Lied usw., gerade so wie man vom Gang der Melodie und Harmonie, vom Tonfall u. dgl. (alles von der sinnlichen Bewegung entlehnt) spricht. Anmut schließt alle Hast und Leidenschaft aus und weist auf plastische Ruhe in der Bewegung hin. Hold (verwandt mit ahd. hald, geneigt, das auf eine altgermanische Wurzel hal, sich neigen, zurückgeht, auf der auch das Wort Halde, d. i. Bergabhang beruht, eig. geneigt, ursprünglich von der Herablassung des Herrn zum Knecht und umgekehrt von der Zuneigung dieses zu jenem gebraucht) sagt man eigentlich von der freundlichen Gesinnung gegen jemand (z. B. „Und dieses Ufer ward dir hold und freundlich, | das jedem Fremden sonst voll Grausens war.“ Goethe, Iphigenie I,2), dann aber auch von allem, was durch seine reine, unschuldige Lieblichkeit einen wohltuenden leidenschaftlosen Eindruck auf unser Gemüt hervorbringt, von Personen, wie von leblosen Dingen, z. B. holdes Kind, holde Fee. „Ein jung einfach Kind i aus Volkestiefen ward hold dir gesinnt.“ Detlev von Liliencron, Kampf und Spiele, Der Heidegänger (Sämtliche Werke, 1904, S. 86). „Ihr lieben, holden Musen“ (Goethe, Der Musensohn); holde Blumen, „Holder Friede, | süße Eintracht!“ (Schiller, Glocke). Oft wird hold da gebraucht, wo bloß die wohltuende Wirkung auf unsere Empfindung angedeutet werden soll: „Wenn auf seligen Mutterarmen du ein holdes Knäblein herzest.“ Carl Spitteler, Balladen 1906, S. 20: Anaïta; z. B. ein holder Wind, holder Schlaf u. dgl. Huld, das Sub-stantivum zu hold, wird nur von der Zuneigung eines Höheren gegen den Niederen und von freundlicher Gesinnung überhaupt gebraucht. Holdselig (eig. von dem jetzt ungebräuchlichen Substantiv Holdsal abgeleitetes Adjektivum, wie trübselig von Trübsal, mühselig von Mühsal, saumselig von Saumsal, doch erscheint hier frühzeitig die bloße Ableitungssilbe — selig mit dem Adjektiv selig gemischt, so daß das Wort bedeutet: voll von Huld, und zugleich eine ähnliche Bildung ist wie: glückselig, redselig, arbeitselig, friedselig, gottselig usw., wo selig überall eine besondere Fülle der durch das Stammwort’ ausgedrückten Eigenschaft anzeigt) und Holdseligkeit verstärken nur den Begriff hold, z. B. „überall aber sehen wir ihn (Goethe) klug, schön, liebenswürdig, eine holdselig erquickende Gestalt, ähnlich den ewigen Göttern“ (Heine, Die romantische Schule, I.; Werke, Hamburg 1867, VI, 99). Doch wird holdselig fast nur in gehobener, von dichterischem Schwunge beseelter Sprache gebraucht; es wird auch gewöhnlich bloß auf Personen angewendet. Reizend (eig. reißen machend, fortreißend) ist etwas, das ein stärkeres Verlangen in uns hervorruft, als das Anmutige und Holde. Das Reizende (und der Reiz) schließt die Hast, Unruhe, Leidenschaft nicht aus, wie das Anmutige und Holde. Wenn das Holde auch reizend genannt werden kann, so ist es beides in verschiedener Hinsicht, hold, wegen des Ausdrucks seiner wohltuenden Liebenswürdigkeit und seiner natürlichen Unschuld, reizend, wegen der Macht, mit der ein solcher Gegenstand unsere liebevolle Aufmerksamkeit auf sich zieht. So kann wohl eine reizende Person bloß unsere Begierden erregen. Eine Buhlerin kann reizend sein, aber nicht hold oder holdselig, wie eine heilige Jungfrau. Die schönen Gesichtszüge und Bewegungen, die mehr Lebhaftigkeit ausdrücken, nennen wir reizend, die, welche mehr Sanftheit ausdrücken, hold. Es wird mehr holde und holdselige Geschöpfe unter den deutschen Frauen und mehr reizende unter den Französinnen geben. Das Wort Grazie (v. franz. la grâce, lat. gratia) ist ursprünglich ein Fremdwort für Anmut und bezeichnet die Schönheit in den Bewegungen, in der Art, wie man sich trägt, in dem Gange, in der Haltung des Körpers. Die wichtige Lehre, die der Graf Chesterfield seinem Sohne vergebens zurief: „senza la Grazia tutta fatica è vana“ (ohne die Grazie ist alle Mühe vergebens), ist bekannt. Oft gebraucht man Grazie als die Hauptbedingung der Schönheit (gerade wie Anmut, s. Schillers Abhandlung „Über Anmut und Würde“) zur Bezeichnung für das Kunstschöne überhaupt, nicht aber das Adjektivum graziös, das nur auf die Bewegung bezogen wird. „Dem prangenden, dem heitern Geist, | der die Notwendigkeit mit Grazie umzogen, | der seinen Äther, seinen Sternenbogen | mit Anmut uns bedienen heißt.“ Schiller, Die Künstler. Der Liebreiz ist ein höherer Grad des Reizes, eigentlich ein Reiz, der Liebe weckt; man gebraucht das Wort daher nur vom weiblichen Geschlechte. Ein männlicher Tänzer kann in seinen Bewegungen und Stellungen Grazie haben, aber man legt ihm keinen Liebreiz bei. In den Stellungen der Bacchantinnen auf den Etrurischen Vasen und selbst in den Bewegungen einiger Tiere ist Grazie, aber kein Liebreiz. Sinnverwandt sind noch die Ausdrücke: liebennvürdig, gewinnend, anziehend, bezaubernd, verlockend, beseligend, anbetungswürdig, hinreißend, sinnberauschend, oder sinnbetörend. Liebenswürdig, eigentl. des Liebens würdig, würdig geliebt zu werden, bezeichnet vor allem das Angenehme und Entgegenkommende im Benehmen gegen andere, dann aber auch überhaupt das Angenehme in den Eigenschalten und in der Erscheinung, aber immer mit Rücksicht auf den geselligen Verkehr, z. B. er behandelte mich sehr liebenswürdig; er sagte mir viel Liebenswürdigkeiten; das ist ein liebenswürdiges Wesen, eine liebenswürdige Erscheinung; ich wurde sehr liebenswürdig empfangen; sein liebenswürdiges Wesen macht es ihm unmöglich, Zudringliche abzuweisen. Gewinnend wird gleichfalls wie liebenswürdig in bezug auf das Benehmen gegen andere und auf den Verkehr mit anderen gebraucht und bezeichnet eigentlich, daß man durch sein zuvorkommendes Wesen einen andern für sich einnimmt, für sich gewinnt, wobei zugleich hervorgehoben wird, daß dies unabsichtlich geschieht, während verlockend und sinnbetörend oder sinnberauschend im Gegensatz zu allen übrigen sinnverwandten Ausdrücken immer eine Absicht voraussetzen oder wenigstens andeuten. Gewinnend ist aber formeller als liebenswürdig und deutet noch nicht auf einen Anteil des Gemüts und Herzens hin wie liebenswürdig. Ein gewinnendes Benehmen, ein gewinnendes Äußere, eine gewinnende Erscheinung geht daher überall auf die vollendeten Formen des Verkehrs oder die Form der Erscheinung, durch die jemand einen günstigen Eindruck hervorruft, während liebenswürdig zugleich einen Inhalt in die Form legt, einen gemütvollen Zug mit der vollendeten Form verbindet. Liebenswürdig deutet daher einen höheren Grad der Zuvorkommenheit im Verkehr an als gewinnend. Und wenn uns jemand mit angenehmem Entgegenkommen behandelt, so werden wir sagen: „Sehr liebenswürdig!“ niemals aber: „Sehr gewinnend!“ weil gewinnend eben nur eine Form des Benehmens bezeichnet, nicht aber die gemütvolle Beziehung auf den andern. Liebenswürdig ist also innerlicher als gewinnend. Anziehend ist alles, was sinnliches oder geistiges Wohlgefallen erregt; während gewinnend und liebenswürdig mehr den vorüberrauschenden Eindruck im geselligen Verkehr bezeichnen, drückt anziehend eine dauernde und tiefere Wirkung aus und geht außerdem keineswegs bloß auf den geselligen Verkehr. Ein anziehendes Gespräch ist mehr wert als eine bloße liebenswürdige Unterhaltung, und diese wieder mehr als ein uns gespendetes gewinnendes Wort. Eine gewinnende oder liebenswürdige Musik kann ziemlich oberflächlich sein, eine anziehende Musik ist schon tiefer angelegt. Ein Buch, das mich an- genehm plaudernd unterhält, nenne ich eine liebenswürdige Lektüre; anziehend wird eine Lektüre erst dann, wenn sie mehr in die Tiefe dringt und auch ernstere Töne anschlägt. Eine liebenswürdige Dame braucht für mich noch keineswegs anziehend zu sein; ein anziehendes Wesen ist ein solches, das ein tieferes Interesse erregt und mich nicht nur angenehm unterhält, sondern auch in seiner Nähe festhält. Anziehend ist also wiederum innerlicher als liebenswürdig, in demselben Grade etwa wie liebenswürdig innerlicher ist als gewinnend. Einen noch höheren Grad des Angezogenwerdens drücken die Worte bezaubernd, berückend aus, die den Gegenstand, der uns fesselt, als einen Zauberer hinstellen, der uns mit unwiderstehlicher Gewalt in seinen magischen Bannkreis zieht, z. B. ein bezauberndes Bild, ein bezauberndes Mädchen, eine berückende Erscheinung usw., gewöhnlich werden die Worte in der Sprache der Liebe gebraucht, um die wunderbare Kraft, mit der man sich zu einem weiblichen Wesen hingezogen fühlt, durch ein starkes und nachdrucksvolles Wort auszudrücken. Auch hinreißend drückt diese unwiderstehliche Gewalt in lebhafter Weise aus; auch hier liegt der Gedanke zugrunde: wie uns eine Nixe oder ein anderes Zauberwesen hinreißt, mit sich fortreißt. Diese Worte heben besonders den sinnlichen Zauber hervor, den irgend etwas auf uns ausübt, z. B. eine bezaubernde, berückende, hinreißende Musik, ein bezauberndes, berückendes, hinreißendes Spiel, Lied usw. Noch höher greifen die Ausdrücke beseligend und anbetungswürdig, die den Gegenstand, der uns beglückt, unter die Götter versetzen, die uns Seligkeit spenden und der Anbetung würdig sind. Auch diese Ausdrücke gehören vorwiegend der Sprache der Liebe an, z. B. anbetungswürdiges Weib, anbetungswürdige Schönheit, beseligendes Wort, beseligende Stunde, beseligender Augenblick usw. Im Unterschied von den andern Wörtern hebt beseligend besonders das hohe Glücksgefühl hervor, in das wir durch jemand versetzt werden, während die anderen Ausdrücke mehr die Anziehungskraft der betreffenden Person oder des betreffenden Gegenstandes schildern. Auf absichtliche und rein sinnliche Wirkung deuten verlockend, berauschend (vom Wein entlehnt), sinnbetörend, sinnberauschend, sinnberückend hin, wobei der Zusatz sinnverstärkend wirkt. Verlockend weist geradezu auf Verführung und Ableiten vom rechten Wege hin. Verlockend war z. B. der Gesang der Sirenen.