184. Aufrichtig¹⁾. Offen, Offenherzig²⁾. Treuherzig³⁾. Freimütig⁴⁾. Naiv⁵⁾. Ehrlich⁶⁾.
Offen ist eigentl. das, was nicht verschlossen ist. Ein offener Mensch ist daher der, welcher nichts verbirgt, der weder Verstellung noch Zurückhaltung kennt. So sagt man: Er sagt offen seine Meinung. Er bekennt sich offen zu dieser Partei. Offen geht daher immer auf das Bekanntwerden oder Kundgeben des Inneren, der Gefühle usw., nicht auf diese selbst; während aufrichtig auch die Gefühle selbst bezeichnen kann, z.B. man liebt, glaubt, wünscht, fühlt usw. aufrichtig (aber nicht offen); dagegen: Man gibt seine Liebe, seinen Glauben, seine Wünsche, seine Gefühle offen kund oder bekennt sie offen. Der Offenherzige sagt alles, was er denkt und wie er es denkt; der Aufrichtige sagt nicht alles, sondern nur was er sagen muß und ohne Indiskretion sagen kann; was er aber sagt, stimmt mit seinem Sinne überein. Der Offenherzige ist immer aufrichtig; denn sonst würde er bisweilen seine Gedanken verbergen; der Aufrichtige ist aber nicht immer offenherzig; was er nicht sagen kann, wie er denkt, sagt er lieber gar nicht. Die Offenherzigkeit ist der Zurückhaltung, die Aufrichtigkeit der Verstellung entgegengesetzt. Eine Offenherzigkeit, die ihre schöne Quelle in der Unschuld und Menschenliebe hat, ist die Treuherzigkeit. Kinder sagen treuherzig (d. i. trauenden Herzens; treu ist eines Stammes mit trauert) ihr Geheimnis, sie gestehen in aller Unschuld das, was sie fühlen, denken, wissen und wollen, ohne an die Folge von dem zu denken, was sie sagen, oder bei diesen Folgen etwas Arges zu ahnen. „Indessen meine Schöne diese Worte ganz treuherzig vorbrachte usw.“ Goethe, Wanderj. III, 6. Naiv (von frz. naïf naïve, aus lat. nativus, d. i. angeboren, natürlich) wird sowohl einem Ausdrucke beigelegt, der ohne Kunst und Überlegung, durch die Natur allein aus dem Innern hervorgeht, als demjenigen, der sich so auszudrücken pflegt. Am gründlichsten hat den Begriff Naiv Schiller in seiner Abhandlung: „Über naive und sentimentalische Dichtung“ erörtert. „Das rein Natürliche, insofern es sittlich gefällig ist, nennen wir naiv.“ Goethe, Spr. i. Pr. 696 a. Die Naivetät ist der Überlegung, der Berechnung, die Treuherzigkeit der Bedenklichkeit, dem Mißtrauen, die Offenherzigkeit der Zurückhaltung entgegengesetzt. Freimütig ist derjenige, der seine Überzeugung ohne Scheu und ohne Rücksicht auf nachteilige Folgen für sich ausspricht. „Mit königlichem Freimut.“ Schiller, Mar. St. III, 4. Der Freimut im Reden ist der Furchtsamkeit entgegengesetzt. Das Glaubensbekenntnis der protestantischen Stände zu Augsburg war offenherzig, sofern sie ihre Überzeugung nicht zurückhielten; aufrichtig, sofern es mit ihren Überzeugungen übereinstimmte; freimütig, sofern sie die Gefahren, die mit der Ablegung desselben verbunden waren, nicht scheuten. Der Weise redet allezeit aufrichtig, mit erprobten Freunden offenherzig, und, so oft es die Pflicht erfordert, freimütig. Ehrlich bezeichnet eigentlich das, was so beschaffen ist, wie es die Ehre erfordert. Im Mittelhochdeutschen wie im älteren Neuhochdeutschen hob es besonders den durch Ehre über andere Hervorragenden, den Vornehmeren hervor, z. B. heißt es bei Luther: „Daß nicht etwa ein Ehrlicherer denn du von ihm geladen sei“ (d. i. ein Vornehmerer) Luc. 14, 8, und ebenso spricht Luther von „Ratsherrn und ehrlichen Leuten“. 4. Mos. 16, 2. Es gewann dann besonders Beziehung auf die bürgerliche Ehre als Gegensatz zur Schande, z. B. ein ehrlicher Name, ein ehrliches Begräbnis. Jünger ist die daraus hervorgehende Bedeutung: ohne Falsch, ohne Trug. Lediglich in dieser Bedeutung kommt es hier in Betracht, z.B. ehrlich seine Meinung sagen, ehrliche Gesinnung. Ehrlich in diesem Sinne hebt die schlichte, einfache Wahrhaftigkeit, Geradheit und Biederkeit hervor, wie sie der bürgerlichen Ehre und Ehrenhaftigkeit entspricht. Es ist also der allgemeinste, umfassendste, schlichteste Ausdruck von allen. „Ein ehrlicher Mann hält Wort.“ — Die Bedeutung nicht stehlend, nicht betrügend, die heute hauptsächlich herrscht, hat sich als die jüngste hieraus entwickelt.